Alamode Film
Wir sind was wir sind

Wir sind was wir sind

Originaltitel
Somos lo que hay
Alternativ
We Are What We Are
Regie
Jorge Michel Grau
Darsteller
Jorge Zárate, Humberto Yáñez, Esteban Soberanes, Octavio Michel, Raúl Kennedy, Miguel Ángel Hoppe
Kinostart:
Deutschland, am 02.06.2011 bei Alamode Filmdistribution
Kinostart:
Österreich, am 09.09.2011 bei ThimFilm
Genre
Horror
Land
Mexiko
Jahr
2010
FSK
ab 18 Jahren
Länge
89 min.
IMDB
IMDB
Homepage
http://www.wir-sind-was-wir-sind.de
|0  katastrophal
brillant  10|
7,0 (Filmreporter)
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Schockierender Horror-Film über Kannibalismus
Am Anfang von "Wir sind was wir sind" ist ein älterer Mann zu sehen. Er torkelt, hält sich kaum auf den Beinen. Mit letzten Kräften fährt er die Rolltreppe eines öffentlichen Gebäudes hoch, der Kamera entgegen. Als er diese passiert, sieht man deutlich, dass er sich den Bauch hält. Offenbar hat er Schmerzen. Draußen bricht er zusammen, nachdem er mysteriöser Weise an einem Schaufenster angehalten und an der Scheibe mit den Fingern die Konturen einer Modellpuppe nachgezeichnet hat. Der Tote wird von einem Räumungstrupp beseitigt. Die dunkle Flüssigkeit, die er beim Sterben speit, wird weggewischt. Kurz darauf gehen schon wieder Passanten über die Stelle. Das Leben geht weiter - von dem Vorfall bleibt scheinbar keine Spur.

Der Mann hinterlässt eine Familie, eine Frau und drei Kinder. Das wird dem Zuschauer schnell klargemacht. Wenig später begleitet die Kamera die jugendlichen Söhne auf den Markt. Ihren Arbeitsplatz verlieren sie, weil ihr Vater seit Wochen die Rechnung für den Marktstand nicht beglichen hat. Zu Hause erfährt die Familie, dass der Vater und Ehemann verstoben ist. Seine Witwe bekommt einen hysterischen Anfall. Doch Zeit für die Trauer bleibt der Familie nicht, schon denken sie an die nahe Zukunft. Da mit dem Vater die Haupteinnahmequelle versiegt ist, müssen neue Strategien her, um die Familie über Wasser zu halten. Doch anders als in Millionen anderer Haushalten in Mexiko, wo die makabre Geschichte von "Wir sind was wir sind" angesiedelt ist, geht es nicht primär um Arbeit, welche sie ernährt, sondern ganz konkret um das Essen selbst.
Nur ganz langsam wird dem Zuschauer klargemacht, worum es in "Wir sind was wir sind" tatsächlich geht. Geschickt hüllen Regisseur und Drehbuchautor Jorge Michel Grau einen Schleier über den Kern seiner Geschichte, und lässt die Wahrheit erst nach und nach an die Oberfläche. Dabei schickt Grau seine Zuschauer immer wieder bewusst auf die falsche Fährte. So glauben die zunächst, dass die Familie sich mit Drogenschmuggel über Wasser halte. Allmählich wird ihm jedoch klar, dass sie auf Menschenjagd geht, um sich von diesen zu ernähren. Es handelt sich also um Kannibalismus. Existenzkampf mal anders.

Die Kamera driftet in "Wir sind was wir sind" in Abgründe weit jenseits des gesellschaftlichen Wertekanons. Der im Prolog mit dem Tod des Vaters versinnbildlichte Zwiespalt von Schein und Sein, Lüge und Wahrheit ist in dem schockierenden Horror-Thriller Programm. Als die Kamera einmal den Söhnen bei ihrer Beschäftigung nachgeht, löst sie sich unvermittelt von den Protagonisten und bewegt sich in den dunklen Hintergrund eines Lastwagens. Es ist ein Abtauchen in den Bodensatz der Gesellschaft, die Abgründe der menschlichen Natur. David Lynch schaut aus allen Ecken.

Nichts ist hier, wie es scheint. Es existieren zwei Welten. Auch auf der Ebene der Inszenierung wird diese Doppelbödigkeit etabliert. Immer wieder macht Grau dem Zuschauer etwas vor, immer wieder verkauft er die Täuschung als Wahrheit. Dabei spielt der Filmemacher geschickt mit genrespezifischen Erwartungsmustern. Angesichts des Todes des Vaters am Anfang wähnt man sich unwillkürlich in einem Science-Fiction-Szenario. Zu mysteriös und geheimnisumwittert ist der Vorfall. Die musikalische Untermalung, die den Bedrohungsmoment beschwört, unterstreicht dies zusätzlich. Wenn der Tote in einem anonymen, kalten Zimmer obduziert wird, suggeriert die Inszenierung, dass es sich um eine Standardsituation eines Mafiafilms handelt: Mitglieder einer Verbrecherorganisation durchsuchen den Toten nach Drogen. Später stellt sich heraus, dass es eine ordnungsgemäße Obduktion war. Am effektivsten kommt das doppelbödige Erzählen in der Milieuzeichnung des Films zum Tragen. Die kargen Lebensverhältnisse der Familie, die anfängliche Verzweiflung der Frau um ihren toten Mann, dramaturgische Insignien eines sozialen Problemfilms.

Vorwerfen könnte man Grau allenfalls, dass er das falsche Spiel etwas zu lange betreibt. Er läuft dabei Gefahr, den Zuschauer zu verlieren. Dennoch gelingt so ein intelligentes Vexierspiel, das vor allem wegen seiner Vielschichtigkeit fasziniert. Sind die Karten endlich auf dem Tisch, verliert "Wir sind was wir sind" dennoch nichts von seiner Spannung. Das liegt auch daran, dass der Regisseur nicht auf dem einmal Etablierten beharrt, um alle genretypischen Elemente und Standardsituationen auszuloten. Er eröffnet vielmehr weitere Dimensionen. Anhand des jüngeren Bruders erzählt Grau nebenbei einen interessanten Reifeprozess. Durch die angedeutete Inzestbeziehung zwischen dem älteren Bruder und der Schwester, aber auch die homoerotische Neigung des jüngeren Bruders wird der Eros als antagonistische Konstante zum Tod ins Spiel gebracht.

Auf formaler Ebene hebt sich der Film durch seine angenehme Unaufgeregtheit ab. Anders als manche andere Genrebeispiele ist er nicht auf Effekte um jeden Preis aus. Dazu passt die sparsam eingesetzte Musik. Wenn es manchmal auch recht blutig zugeht, verzichtet Grau insgesamt auf allzu brutale Szenen. Dass "Wir sind was wir sind" so schockierend ist, liegt eher an der Strategie des formalen Verzichts. Die formale Doppelbödigkeit hat sicher auch hierin ihre Begründung. Grau wurde neben Lynch offensichtlich auch von einem anderen Meister des Makabren inspiriert: Luis Buñuel. Wie kein anderer wusste dieser, dass der Schrecken umso wirksamer ist, je größer er zum inhaltlichen und konzeptionellen Rahmen, in dem er stattfindet, im Widerspruch steht.
Willy Flemmer, Filmreporter.de
"Wir sind was wir sind" handelt von Kannibalismus. Indem Regisseur Jorge Michel Grau die Erwartungsmuster des Zuschauers unterläuft, wird das Thema...
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2024