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Phantom Indien - Teil 1

Phantom Indien

Originaltitel
L'Inde fantôme
Alternativ
Phantom India
Regie
Louis Malle
Darsteller
Louis Malle
Kinostart:
Deutschland, bei
Genre
TV-Mehrteiler, Dokumentarfilm
Land
Frankreich
Jahr
1969
Länge
378 min.
IMDB
IMDB
|0  katastrophal
brillant  10|
8,0 (Filmreporter)
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Bildgewaltige Dokumentation über eine fremde Welt
Dass Louis Malle als einer der Vertreter der Nouvelle Vague bedeutende Spielfilme realisierte, ist hinlänglich bekannt. Dass er auch wichtige Dokumentarfilme drehte, ist etwas in Vergessenheit geraten. Das ist umso verwunderlicher, als Malle seine Regie-Karriere bereits 1955 an der Seite von Jacques-Yves Cousteau begann, als er mit diesem den bahnbrechenden Unterwasserfilm "Die schweigende Welt" realisierte. Danach kehrte er immer wieder zum Dokumentarfilm zurück. Auch wenn jeder seiner Filme persönliche Bezugspunkte zum Stoff aufweist, auf einen thematischen Leitfaden hat sich Malle dabei weder im fiktiven noch dokumentarischen Werk beschränkt.

Der Faszination Indien erlag der 1995 in seiner Wahlheimat Beverly Hills/Los Angeles verstorbene Filmemacher, als er 1967 zum ersten Mal den Subkontinent bereiste. Er hatte das Ziel, eine Filmreihe zum Thema Neuer Französischer Film zu präsentieren. Er blieb fünf Monate, und erkundete das Land auch mit seiner Kamera. Ein festes Ziel hatte er bei der Reise ebenso wenig, wie er mit einem konzeptionellen Plan ans Werk ging. Ohne Drehbuch filmte er mit zwei Mitarbeitern alles, was sich vor seinen Augen abspielte. Entsprechend breit gefächert ist das Themen- und Motivspektrum des formal ambitionierten Werks, das Malle als eines seiner persönlichsten bezeichnete. So stehen alltäglichen Szenen neben Sequenzen über religiöse Rituale, immer wieder drängt sich die wirtschaftliche und soziale Realität des Landes ins Bild.
Das Ergebnis des spontanen Unternehmens war überdimensional. 30 Stunden umfassendes Filmmaterial schnitt der Regisseur zu einer siebenteiligen Dokumentation zusammen, wobei er Aufnahmen aus Kalkutta später zu einem eigenständigen Film schnitt ("Kalkutta"). Malle verhehlt nicht, dass sein Blick auf Indien der eines Fremden ist. Immer wieder gibt er im Off seine Gefühle angesichts der Ereignisse vor der Kamera preis. Seine Reaktionen reichen dabei von Faszination über Befremdung bis hin zu Abscheu und Ekel, die nicht selten in Sprachlosigkeit des Filmemachers münden.

Der vorurteilsfreie und konzeptionslose Blick wurde letztlich zu Malles Programm. Er hatte nichts weniger im Sinn, als den Charakter Indiens zu erfassen. Kein von der westlichen Kultur geprägtes Kategoriensystem, keine Dramaturgie sollte sich dem Ziel in den Weg stellen, dem geistigen Kern eines faszinierenden Landes auf die Spur zu kommen. Dabei musste Malle schon bald das Scheitern dieses Vorhabens feststellen. Ausgerechnet die Kamera, das wichtigste Werkzeug des Dokumentarfilmers, wurde zum größten Hindernis. Wann immer Malles sein Instrument auf das Umfeld richtete, stieß er nicht auf Aktion, sondern Reaktion. Den Anblick der Kamera nicht gewohnt, zeigte sich der Inder von ihrer Präsenz beeindruckt. Menschen, die in die Kamera blicken, sind denn auch die einleitenden Bilder des Films.

Später filmt Malle Frauen bei der Arbeit auf einem Feld, wobei diese entsetzt vor dem Kamera fliehen. Es sind Aufnahmen, die den Menschen nicht in seiner Wahrhaftigkeit zeigen, sondern im Bewusstsein des Beobachtet-Werdens. Dabei verschweigt Malle nicht sein Gefühl angesichts seines Eindringens in diese Welt: Als filmender Beobachter glaubt er, ihre Unschuld zu rauben. Die Kamera, so Malle an einer Stelle, sei eine Waffe, mit der er dem Menschen Gewalt antue.

"Phantom Indien" ist in diesem Sinne das Dokument einer resignierenden Erkenntnis eines Filmemachens über das Wesen des Dokumentarfilms. Die Ursprünglichkeit des Menschen geht in dem Moment verloren, wenn die Kamera auf sie ansetzt. Der Wahrhaftigkeit ist mit der Kamera nicht beizukommen, ohne diese in ihrer Entität zu beeinflussen.
Willy Flemmer, Filmreporter.de
2024