Tobis
Bill Murray mit Jim Jarmusch am "Broken Flowers"-Set
Wenn Robinson die Couch verlässt
Feature: Jim Jarmuschs Prinzip der Trägheit
Als Publikumsliebling und Gewinner des Grand Prix der Filmfestspiele von Cannes 2005 empfiehlt sich "Broken Flowers". Jim Jarmuschs Drama ist ein zurückhaltend gestaltetes, absurd-lakonisches Meisterwerk um die Sehnsucht nach dem Ungewissen. Die Rolle des lethargischen Titelhelden, der sich in zielstrebiger Behäbigkeit auf die Suche nach der Mutter seines Sohnes macht, hat Jarmusch Bill Murray auf den Leib geschrieben. Wir meinen: ein Glücksfall!
erschienen am 8. 09. 2005
Tobis
Genuß oder qualvolles Eintauchen in die Vergangenheit?
Irgendwann hat Don Johnston ("Johnston mit T": Bill Murray) beschlossen, zu seinen maßgeschneiderten Slippern nur noch Fred-Perry-Trainingsanzüge zu tragen. Deren dezente Farbgebung enthält sich vornehm jeglicher lebensbejahender Nuancen. Es sind sehr schicke Trainingsanzüge, die sich nachgerade dafür empfehlen, in ihnen die Tage zu vercouchen. Wie lange Don diesen bedächtigen Lebensrhythmus bereits pflegt, lässt sich nicht sagen. Legt man dieser Überlegung jedoch die Eingangsszene von "Broken Flowers" zu Grunde, scheint es sich um einen nicht unerheblichen Zeitraum handeln kann. Don sitzt auf seiner Couch wie Robinson auf der Insel. Genauer: Wie Robinson in dem Moment, als ihm klar wird, dass sich wohl nie mehr etwas an seiner Situation ändern wird. Bevor sich dieser Gedanke allerdings in Don festigen kann, steht Freundin (Julie Delpy) mit gepackten Koffern im Flur und erklärt sich selbst kurzerhand und fast emotionslos zur Ex. Sobald Lethargie zur Gewohnheit wird, entwickelt sie ein dynamisches Potential. Niemand illustriert dieses unterhaltsame Trägheitsprinzip schöner als Jim Jarmusch ("Stranger than Paradise", "Dead Man").
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Bill Murray: Ungewisses Wiedersehen mit der eigenen Vergangenheit
Er lässt dieser speziellen Form der Zufallsbegegnung im Falle Dons zunächst diametrale Voraussetzungen angedeihen, indem er einem präzisen Auslöser die generalstabsmäßige Planung der Begegnungen zur Seite stellt. In Wechselwirkung mit der fabelhaften Lethargie seines Helden spielt sich das Ganze wie folgt ab: Nachdem die nunmehrige Ex das Haus verlassen hat, schlappt Don zur Tür, fischt einen rosafarbenen Umschlag aus dem Papierhaufen, der sich unterm Briefschlitz angesammelt hat und macht sich mit der routinierten Behäbigkeit des vom Schicksal Gebeutelten auf den Weg zum Nachbarhaus. Umtost von großfamiliärem Chaos äthiopischer Prägung begibt er sich einen Kinderkopf streichelnd ins büroähnliche Refugium seines Nachbarn und einzigen Freundes Winston (Jeffrey Wright), lässt sich auf einen Stuhl fallen und öffnet den rosafarbenen Brief. Winston preist die Vorzüge des Internet. Don liest. Winston preist die Vorzüge des Internet. Don lässt den Brief sinken. Winston preist die Vorzüge des Internet. Don erwidert, dass er wohl einen 19-jährigen Sohn habe, der ihn jetzt besuchen kommt. Winston nimmt den Brief und zückt eine große Lupe, um sich dadurch Rückschlüsse auf die anonyme Autorin zu verschaffen. Da diese Spurensicherung versagt, lässt er sich von Don eine Liste der Damen geben, mit denen dieser vor 20 Jahren mehr oder weniger verbandelt war, recherchiert flugs deren aktuelle Adressen und stellt dem apathischen Frischvater eine bequeme Reiseroute zusammen. Die Vorzüge des Internet. Don fährt nur deshalb los, weil er keine Kraft hat, Winstons Eifer irgendetwas entgegenzusetzen.

Was folgt ist eine Begegnung mit der Vergangenheit in vier Akten. Auf der Suche nach der Mutter seines Sohnes hat es Don, der auf Anraten seines Freundes nie ohne Blumenstrauß anklopft, mit den klassischen Mustern überraschenden Wiedersehens zu tun: Vertrautheit, Verstörung, Verdrängung, Verachtung. Vier Post-Don-Ären, die sich in Person einer lebenslustigen Rennfahrerwitwe (Sharon Stone), einer neurotischen Immobilienmaklergattin (Frances Conroy), einer lesbischen Tierpsychologin (Jessica Lange) und einer völlig kaputten White-Trash-Furie (Tilda Swinton) manifestieren. Don erlebt ein pubertierendes Pinkytwinkybubblehäschen - "Du heißt Lolita...?" "Ja. Wieso?" - das nackt telefonierend vor ihm posiert. Er wohnt konziliant zelebrierten Abendessen bei, die zum Leichenschmaus für den Traum vom Glück mutieren. Eine langbeinige Sprechstundenhilfe in Blond durchbohrt ihn mit eifersüchtigen Blicken. Und am Ende ist sich Don zwar nicht sicher, die Mutter seines Sohnes gefunden zu haben, verfügt aber wenigstens über die Gewissheit, dass ein Leben ohne diesen auch nicht besser ist.

"Ich glaube", sagt Jim Jarmusch, "der Film handelt von der Sehnsucht nach etwas, das dir fehlt, ohne dass du unbedingt konkret ausdrücken kannst, was genau dir fehlt." Und wenn es bloß die Sehnsucht nach einem Erben ist, dem Don Johnston sein Vermögen vermachen könnte. Er hat dieses Vermögen - eines der spärlichen Details, die in "Broken Flowers" über Dons Vorleben berichtet werden - "mit Computern" gemacht. Es könnte sich um eine Suchmaschine gehandelt haben.
erschienen am 8. September 2005
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Broken Flowers (Kinofilm)
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Bill Murray beginnt zunächst ein Medizinstudium, das er sich mit Drogengeschäften (Marihuana) finanziert. Er wird erwischt und bekommt eine Bewährungsstrafe. Seine Schauspielkarriere startet 1977, als Murray ins Ensemble der legendären TV-Sendung "Saturday Night Live" aufgenommen wird. Er bekommt seinen ersten Ghostbusters - Die Geisterjäger" sowie der Part des zynischen Wetteransagers in "Und täglich grüßt das Murmeltier" (1993).Sofia Coppola s Drama "Lost in Translation" (2003) nach Tokio..
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