Kinowelt
City of God
Blutiger Alltag in Rio's Favelas
Feature: Gewalt im Schatten des Zuckerhuts
Ein Stück "Pulp Fiction" oder Realität pur? Es ist nicht leicht, die visuelle und erzählerische Tour de Force einzuordnen, die Fernando Meirelles mit seinem Film "City of God" gelungen ist - aber irgendwo zwischen diesen beiden Welten ist die erschütternde Geschichte über die knallharten Bandenkriege in den Favelas von Rio de Janeiro anzusiedeln.
erschienen am 7. 05. 2003
Szene aus: City of God
Für heiteres brasilianisches Lebensgefühl ist wenig Platz. Wenn in der Eröffnungssequenz Vorbereitungen für ein Fest getroffen werden und die Hüften des Zuschauers mit der Musik zu schwingen beginnen, mag dies leise anklingen. Aber das am Schleifstein gewetzte Schlachtermesser und die Jagd eines Huhns, das unters Messer kommen soll, deuten an, was uns tatsächlich erwartet. In den Favelas zählen Menschenleben fast genauso wenig wie Hühnerleben.
Szene aus: City of God
"City of God" erzählt vom Aufstieg und Fall des Drogenbarons Zé Pequeño, zu dem das Wort Baron aber nicht so recht passen will: Seine Gangsterkarriere beginnt im Kindesalter - seine Jugend wird er nicht lebend überstehen. Immer wieder kreuzen sich seine Wege mit denen von Buscapé, dem angehenden Fotografen, der inmitten der Bandenkriege aufwächst und uns als Beobachter die Geschichte erzählt.
Szene aus: City of God
Zugegeben - eine stark vereinfachte Zusammenfassung. Aber es ist unmöglich, die zahlreichen Erzählstränge und Figuren dieses Films zu beschreiben. Die Buchvorlage, der Roman "Cidade de Deus" von Paolo Lins, verfolgte auf 600 Seiten das Schicksal von über 300 Charakteren, die Lins während seiner Jugend in der Favela Citade de Deus traf - und von denen die meisten als Jugendliche starben. In Meirelles Film wurde diese Fülle drastisch reduziert. Unübersichtlich bleibt es mit all seinen Rückblenden und Seitensträngen dennoch - mit Absicht.

So sehr dies an "Pulp Fiction" erinnern mag, mit dem der in Cannes bejubelte Film verglichen wurde - im Gegensatz zu jenem beschreibt "City of God" im Grunde nichts anderes als den realen Alltag. Wann immer es etwas zu lachen gibt - es bleibt einem schnell im Halse stecken. Was als Fiktion einfach nur unterhaltend sein könnte, wird unerträglich, wenn es die Wahrheit darstellt.
Szene aus: City of God
Konsequenterweise entschied sich Regisseur Meirelles dafür, überwiegend mit Laiendarsteller zu arbeiten. Diese stammen aus den Favelas der Metropole Rio de Janeiro. Das Filmteam organisierte wochenlang Workshops mit rund 200 Jugendlichen. Viele sind im Film zu sehen - auch in Hauptrollen. Dies trägt erheblich zur Authentizität und Energie des Films bei. Wenn die Jugendlichen sich bei den teils chaotischen Dreharbeiten mit einzelnen Szenen nicht identifizieren konnten, weil diese ihren Erfahrungen nicht entsprachen, wurden diese gestrichen oder verändert.
Szene aus: City of God
So mancher Jugendlicher dürfte durch die Beteiligung am Film von dem Schicksal verschont worden sein, das im Film thematisiert wird: Wer in der Citade de Deus aufwächst, hat mit 16 die besten Jahre bereits hinter sich -die Chance, die 20 zu überstehen, sind statistisch nicht sonderlich hoch.

Trotz Laiendarsteller: Laienhaft ist in diesem knallharten und doch opulenten Meisterwerk ohnehin nichts. Das beweist schon eine der halsbrecherischen Eingangssequenzen, in denen die Gewaltspirale aus den achtziger Jahren zu den Anfängen der späten sechziger Jahre zurückgedreht wird: Die Kamera wirbelt um den erstarrenden Buscapé, der sich noch eben inmitten einer Straßenschlacht in der heruntergekommenen City of God befand und sich kurz darauf als Kind auf dem staubigen Bolzplatz dieser einst am Reißbrett geplanten Barackenstadt wiederfindet. Nur ein Beispiel in einem Sammelsurium wilder Schnittfolgen und atemberaubender Kamerafahrten, das den Höllentrip der Hauptfiguren unterstreicht.
Szene aus: City of God
Bei allen Finessen im Schnitt und in der Bildbearbeitung - Meirelles Film bleibt immer dicht bei seinen Charakteren. Die "Verschwendung von Leben", wie der Regisseur das Schicksal der Jugendlichen in den Favelas bezeichnet, zieht sich unaufhaltsam durch diesen sehenswerten und zugleich verstörenden Film. Wenn nach gut zwei Stunden Anfang und Ende des Films ineinander übergehen, ist die Gewaltspirale vorerst unterbrochen - ihr Neubeginn deutet sich aber schon wieder an.
erschienen am 7. Mai 2003
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Ein Stück "Pulp Fiction" oder Realität pur? Es ist nicht leicht, die visuelle und erzählerische Tour de Force einzuordnen, die Fernando Meirelles mit seinem Film "City of God" gelungen ist - aber irgendwo zwischen diesen beiden Welten ist die erschütternde Geschichte über die knallharten Bandenkriege in den Favelas von Rio de Janeiro anzusiedeln.
"City of God" ist sein Durchbruch. Der Film über das Überleben in einem Favela von Rio de Janeiro macht Fernando Meirelles 2003 zum international beachteten Regisseur. Er selbst entstammt einer Mittelstandfamilie der Industriemetropole Sao Paulo. Der ewige Gärtner" (2005) von John Le Carré, sowie José Saramagos "Die Stadt der Blinden" (2007). 2011 folgt das Episodendrama "360".
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