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Victoria
Französische Kindermädchen und Berliner Kleinganoven
Berlinale: Sebastian Schipper stellt furioses Gangsterdama vor
Nach den sozialkritischen und politischen Ausflügen mit "Taxi" von Jafar Panahi und dem enttäuschenden Melodram "Queen of the Desert" von Werner Herzog, der sich immerhin mit einer die Weltordnung mitbestimmenden Frau befasst, sind auf der Berlinale am dritten Tag ästhetische Wagnisse zu sehen. Im Wettbewerb unter anderem: das atmosphärisch dichte Kostümdrama "Journal d'une femme de chambre" von Benoît Jacquot und Sebastian Schippers rauschendes Gangsterepos "Victoria".
08. Feb 2015: Grundlage von Jacquots "Journal d'une femme de chambre" ist der gleichnamige Roman von Octave Mirbeau aus dem Jahr 1900, der bereits von Kinogrößen wie Jean Renoir und Luis Buñuel adaptiert wurde. Im Zentrum der Geschichte steht eine Hausdienerin (Léa Seydoux), die von Paris in die französische Provinz vermittelt wird, wo sie in der Villa des betagten Ehepaars Lanlaire anheuert. Während die Hausherrin die junge Frau zunehmend schickaniert, macht ihr der lüsterne Ehemann immer häufiger sexuelle Avancen. Bald erfährt Celestine, dass sich der Mann auch an der Köchin vergreift. Der dritte Angestellte ist der ruppige Hausdiener Joseph (Vincent Lindon), der Celestine zunächst distanziert, dann mit einem ungewöhnlichen Angebot begegnet.

Mirbeaus Romanklassiker reiht sich ein in eine Reihe von Romanen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die sich am Beispiel weiblicher Protagonistinnen kritisch mit der Stellung der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft auseinandersetzten. Gustave Flauberts "Madame Bovary", Henrik Ibsens "Nora oder Ein Puppenheit", Thomas Hardys "Tess of the d'Urbervilles" und nicht zuletzt Theodor Fontanes "Effie Briest" sind scharfsinnige Reflexionen über soziale Unterdrückung der Frau und ihrer Sehnsucht, dem fremdbestimmten Leben zu entfliehen.

Mirbeaus Celestine gehört im Vergleich zu den genannten Beispielen zwar einer niedrigeren Gesellschaftsschicht an. Doch gerade durch diese Perspektive und ausgehend aus ihrem Erfahrungshorizont gelingt dem Autor ein beißender Kommentar auf die bürgerliche Gesellschaft, deren Scheinheiligkeit und Verlogenheit nicht zuletzt durch Tolerierung und Ausübung von Skalverei entlarvt wird.

Um Skalverei, die physische Ausbeutung des Menschen durch Menschen also, geht es bei Jacquot nur vordergründig. Der französiche Filmemacher, der zuletzt mit "Leb wohl, meine Königin!" im Wettbewerb der Berlinale vertreten war, hat vielmehr ein Drama über Macht und Ohnmacht inszeniert. Dabei wird die Macht, um die es Jacquot geht, weder von der herrschenden Klasse, noch einseitig ausgeübt. Wie Celestine von ihren Arbeitgebern ausgebeutet und missbraucht wird, so übt die attraktive junge Frau ihrerseits Macht auf andere, vornehmlich Männer aus. Machtausübung ist im Sinne Jacquots keine ökonomische Frage, sie ist sexueller und emotionaler Natur.

Während "Journal d'une femme de chambre" ästhetisch mittels Kameraarbeit, Ausstattung und Kostümen die Zeit im Umbruch zum 20. Jahrhundert heraufbeschwört und dabei erzählerisch und filmisch auf leisen Sohlen daherkommt, ist Sebastian Schippers "Victoria" ein einziger Bilderrausch. Der Schauspieler, der mit seinem vierten Spielfilm zum ersten Mal im Wettbewerb eines A-Filmfestivals teilnimmt, hat sein Gangsterdrama in einer einzigen Einstellung gedreht. Das mag nach Filmen wie Alfred Hitchcocks "Cocktail für eine Leiche", Alexander Sokurows "Russian Ark", Gaspar Noés "Enter the Void" und Alejandro González Inárritus "Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)" nicht mehr besonders innovativ sein. In der deutschen Kinolandschaft, in der sich nicht nur originelle, sondern generell Genrefilme bekanntermaßen schwer tun, ragt der geglückte Versuch Schippers dennoch wohltuend heraus.

"Victoria" spielt in einer Nacht und erzählt von einer jungen Spanierin (Laia Costa), die nach einer gescheiterten Laufbahn als Konzertpianistin in Berlin in einem Café arbeitet. Eines Nachts lernt sie vor einem Club vier junge Männer kennen, die sich bald als Kleinkriminelle herausstellen. Vor allem Sonne (großartig: Frederick Lau) macht auf Victoria großen Eindruck. Gemeinsam ziehen die fünf durch das nächtliche Berlin, bis die Männer zu einem Coup aufbrechen müssen. Da einer von ihnen wegen Trunkenheit ausfällt, entschließt sich Victoria, seinen Platz einzunehmen.

Unabhängig davon, ob Schippers kühner Entwurf gefruchtet hat oder nicht, fasziniert die Ästhetik allein schon durch die Dialektik zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, mit welcher der Filmemacher während der Entstehung des Films konfrontiert gewesen sein muss. Zum einen erforderte die Tatsache, das Szenen nicht wiederholt werden konnten, eine akribische Planung. Andererseits musste Schipper während des Drehs die Kontrolle weitgehend an seine Schauspieler und den Kameramann abgeben und die Geschichte mehr oder weniger sich selbst überlassen.

Das Ergebnis ist trotz einiger dem Konzept geschuldeter Schwächen furios. Schipper erreicht mit "Victoria" vor allem dank seines formalen Wagnisses, seiner großartigen Schauspieler und des norwegischen Kameramannes Sturla Brandth Grøvlen eine Authentizität, wie man sie selten im Kino zu sehen bekommt. Es ist pulsierendes, fiebriges Leben, das da auf der Leinwand erstrahlt: wie sich ein junger Mann mit seiner Clique einer jungen Frau nähert, wie diese mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und Neugierde auf den wilden Haufen reagiert und sich ihnen nach einigem Zögern dann doch anschließt; wie sie durch die Straßen Berlins schlendern, einen Kiosk beklauen, sich mit einer anderen Gruppe anlegen und schließlich auf einem Dach, dann in einem Café landen: bei aller Kinomagie, die diese Bilder verströmen, ist es doch das Moment der Wahrhaftigkeit, von dem man als Zuschauer im Kinosaal so gefesselt ist.

Nicht nur einmal fühlt man sich angesichts "Victoria" an das Kino der Nouvelle Vague erinnert, an Jean-Luc Godards Kleingangster- und Boy-Meets-Girl-Geschichte in "Außer Atem" vor allem. Auch das war bekanntlich eine Kinoströmung, deren Filmemacher mit der Kamera möglichst nah an das wahre Leben heranwollten und auf diesem Wege alles Stilisierte, alle formalen Umwege und vor allem: das Glatte und das Perfekte aus ihren Filmen verbannten. Auch Schipper erklärt mit seinem Film der Perfektion des durch und durch digitalisierten Films von heute, dem Handwerklichen und Gelernten den Krieg. Er wollte 'Raum schaffen für das vermeintlich Nichtgelungene', sagte er in einem Interview.

Und doch muss Schipper zwangsweise an die Grenzen seines Experiments stoßen. Denn bei aller Lebensnähe, aller Ausmerzung des Filmisch-Gemachten muss auch er eine Geschichte erzählen. So verliert sein Film immer dann an Substanz und Glaubwürdigkeit, wenn es darum geht, das Leben dramaturgisch zu gestalten, die Charaktere zu definieren und die Handlung voranzutreiben. Hier kann der Filmemacher dem Klischee nicht entgehen. Auch führt das Moment der Improvisation gelegentlich zu kleinen Löchern und Stockungen. Wenn die Schauspieler mitten in einer Szene etwa nach Sätzen und Worten ringen, dann wird man als Zuschauer doch daran erinnert, nicht dem Leben zuzuschauen, sondern Schauspielern, die das Leben imitieren. Aber wie gesagt: diese Mängel sind nicht individueller Art, sie sind dem Konzept geschuldet. "Victoria" wird in den Kinos wie ein Bombe einschlagen.
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2024