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Filmfest Venedig
Poster des 60. Filmfest von Venedig
Halbzeit am Lido: Zwischen Kunst und Hollywood-Snacks
Venedig wird 60
Begonnen hatte alles mit einer dreifachen Premiere: Zur festlichen Eröffnung der 60. Filmfestspiele in Venedig tat Woody Allen etwas, was er bisher stets verweigert hatte: Erstmals besuchte er den Lido, um sein neuestes Werk persönlich beim Festival vorzustellen. Für die Fans, die ihn als reiseunwilligen Erz-New Yorker kennen, eine vielleicht noch größere Überraschung als einst Allens Hochzeit mit seiner Adoptivtochter Soon-Yi Previn.
31. Aug 2003: Und drittens der Film selbst: Im Mittelpunkt von "Anything Else" steht Woody als jener New Yorker Stadtneurotiker, den man aus Dutzenden von Filmen kennt. Doch anders als früher spielt Allen diesmal keinen passiven Hypochonder. Sein David Dobel ist vielmehr ein zynischer Verschwörungstheoretiker mit einer großkalibrigen Waffe unter jedem Bett, der für Psychotherapeuten und sonstige Seelenklempner nichts als Verachtung übrig hat. Einer, der mit Ende Sechzig im roten Porsche durch Manhattans Straßenschluchten düst und soviel Wut im Bauch mit sich herumschleppt, dass ein paar Verkehrs-Rowdies ein Kräftemessen mit eingeschlagenen Wagenfenstern bezahlen. Und trotzdem ein Verlierertyp, der hinter jeder Bemerkung einen Angriff wittert, die Welt mit jüdischen Witzen erklärt und ungefragt mit guten Ratschlägen um sich wirft - einsamer vielleicht als manche von Woodys früheren liebenswert chaotischen Pessimisten, aber auch einer, der sich wehrt, wenn ein Holocaust-Leugner die Stimme erhebt.

Die eigentliche Woody-Rolle spielt diesmal ein neues Alter Ego: Ausgerechnet Jason Biggs, der Teenie-Star aus den drei "American Pie"-Komödien, verkörpert Woodys klassischen Schwerenöter. Er ist einer, der nicht Nein sagen kann und sich von Christina Riccis aufreizend flatterhafter Nervensäge Amanda zum Narren halten lässt - um am Ende von Dobel alias Woody Allen, New Yorks anhänglichstem Bürger, zur Abreise nach Kalifornien bewegt zu werden, wo dem unterbeschäftigten Komödienschreiber die Fleischtöpfe Hollywoods winken.

Woody Allen selbst - ein bisschen schwerhörig schon und eher schüchtern die begeisterten Ovationen des Premierenpublikums entgegen nehmend - bescherte den Filmfestspielen zu ihrem 60. Geburtstag eine besonders festliche Eröffnungsgala, und Festivalchef Moritz de Hadeln, der mit der deutschen Filmszene auch in rund 20 Jahren Berlinale nie recht warm geworden ist, konnte den Abend als Erfolg für sich verbuchen. Noch ist es nur eine mündliche Zusage, aber es sieht so aus, als werde sein Jahresvertrag mit der venezianischen Biennale, der Mutterorganisation der Filmfestspiele, demnächst ein zweites Mal verlängert. Dabei hatte de Hadeln die städtischen Behörden, von denen eine reibungslose Festival-Organisation auf vielen Ebenen abhängt, gleich zum Auftakt mit deutlichen Worten über mangelnde Flexibilität und die angebliche Sabotage seiner Optimierungsversuche brüskiert.

De Hadelns Programm jedenfalls kann sich sehen lassen: Wenn es sein Ziel war, das Gerede vom schlechten Jahrgang angesichts einer schwachen Auswahl in Cannes im Nachhinein zu widerlegen, dann scheint ihm das zumindest halbwegs zu gelingen. Was nicht heißen soll, dass nicht, wie üblich, neben formalen Meisterwerken wie dem Politkrimi "Segreti di Stato" ("Staatsgeheimnisse") von Paolo Benvenuti (dem ersten einheimischen Wettbewerbsbeitrag) auch viel wohlmeinender Kunstkitsch vertreten wäre: vom israelisch-libanesischen Grenzdrama "Le cerf-volant" ("Der Drachen") der Dokumentarfilmerin Randa Chahal Sabbag bis zum Fernsehspiel "Il miracolo" ("Das Wunder") von Edoardo Winspeare, dem zweiten bisher gesehenen von insgesamt drei italienischen Wettbewerbsbeiträgen.

Denn obwohl von offizieller Seite zum ersten Mal keine Herkunftsländer zu den einzelnen Filmen genannt werden, um der sich einbürgernden Realität multinationaler Koproduktionen auf dem Sektor der Festivalfilme mit Kunstanspruch Rechnung zu tragen, hat das Mitzählen nationaler Preischancen natürlich nicht aufgehört. Von den beiden deutschen Beiträgen - Michael Schorrs Vorruhestands-Dokudrama "Schultze Gets the Blues" im weniger prestigeträchtigen, dafür mit ansehnlichen Geldpreisen ausgestatteten Parallelwettbewerb für die jüngeren Kräfte wird erst in der zweiten Festivalhälfte zu sehen sein - wurde Margarethe von Trottas "Rosenstraße" am Samstagabend von der internationalen Presse mit viel Interesse und anhaltendem Beifall aufgenommen.

Natürlich gibt es auch ein paar starträchtige nordamerikanische Vorpremieren im Programm von Venedig 60, die für den nötigen Glamour-Faktor an der Lagune sorgen und die Paparazzi beschäftigt halten. Insgesamt aber ist de Hadelns Programm ungewöhnlich Europazentriert - alte Welt garniert mit einer guten Portion französisch-arabischem Nordafrika und etwas Palästina-Konflikt. Und selbst bei den amerikanischen Beiträgen außer Konkurrenz handelt es sich mit der Ausnahme von Robert Rodriguez' lautem, buntem, schnellem Leone-Verschnitt "Irgendwann in Mexico", dem abschließenden Teil seiner Mariachi-Trilogie (dt. Kinostart 18. September) fast ausnahmslos um Filme von Ostküsten-Independents wie Allen oder den Coen-Brüdern oder um seriöse Literaturadaptionen wie Robert Bentons "Der menschliche Makel" nach Philip Roth - letzterer ganz altmodisches Erzählkino mit gepflegtem Bild und aufklärerischem Anspruch, glänzend besetzt mit Sir Anthony Hopkins, Nicole Kidman, Gary Sinise und Ed Harris (Kinostart 20. November).
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2024