Neue Filmwelt
Monsieur Charlie Chaplin.
Tramp & Gentleman: Charlie Chaplin
Retro Feature: Geächtete Hollywood-Ikone
Der 16. April 1972 geht als einer der bewegendsten Momente in die Geschichte Hollywoods ein: Vor versammelter Filmprominenz nimmt der 83-jährige Sir Charles Chaplin einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk entgegen. Das Publikum bejubelt den kleinen großen Mann und feiert ihn mit Standing Ovations. Es ist die sehr späte Wiedergutmachung an einem Künstler, dem 20 Jahre zuvor die Rückreise in seine Wahlheimat USA verwehrt worden war. Zeit seines Lebens gilt Chaplin nicht nur als genialer Komiker, sondern auch als kritischer Geist. Mit seinen Filmen bringt er Millionen von Menschen zum Lachen. Er prangert aber auch soziale Missstände und politischen Größenwahn an.
erschienen am 26. 07. 2022
Neue Filmwelt
Charlie Chaplin in "Der Frauenmörder von Paris"
Leben aus der Straßenperspektive
Charlie Chaplin gehört zu jenen Filmschaffenden, deren Herkunft und Eindrücke aus Jugendtagen sich unmittelbar in ihrem Werk widerspiegeln. Schauplatz fast aller seiner Filme ist die Straße: Sei es eine hektische Großstadtmeile, eine staubige Landstraße oder die triste Gasse eines Arme-Leute-Viertels. Das ist kein Zufall, denn seit frühester Kindheit hat der am 16. April 1889 in London geborene Chaplin das Leben aus der Straßenperspektive kennengelernt. Es sind keine fröhlichen Kinderjahre. Chaplins Eltern sind Unterhaltungskünstler und trennen sich früh. Die Mutter leidet an psychischen Problemen, der Vater stirbt infolge Alkoholmissbrauchs. Charlie und sein Halbbruder Sydney wachsen im Armenhaus auf. Die einzige Chance, dem Elend zu entkommen, bietet sich Charlie beim Theater. Bereits mit neun Jahren steht er auf einer kleinen Londoner Bühne und spielt dort das, was er auch im wirklichen Leben ist: einen Gassenjungen. 1908 findet Chaplin Anschluss an die Truppe des Theaterunternehmers Fred Karno. Im dessen Gefolge unternimmt er in den Jahren 1911 bis 1912 zwei USA-Tourneen. Für Chaplin erweisen sich die Vereinigten Staaten als das gelobte Land. In der aufstrebenden Filmindustrie Hollywoods findet er ein ideales Betätigungsfeld. 1913 nimmt ihn die Keystone Filmgesellschaft von Produzent Mack Sennett unter Vertrag. Mit zunächst 150 Dollar Wochengage ist Charlie Chaplin auf dem besten Weg, die Hungerjahre seiner Kindheit endgültig hinter sich zu lassen.
Lupe
Der große Diktator
Geburtsstunde des Tramps
Anfang 1914 beginnt Chaplins Arbeit bei Keystone. Dort spannt man den kleinen, schmächtigen Charlie mit dem dicken Komiker Roscoe 'Fatty' Arbuckle zusammen. Doch die Zusammenarbeit widerstrebt Chaplin. Der Effekt seiner Auftritte mit Arbuckle beruht lediglich auf dem körperlichen Gegensatz beider Komiker. Doch Chaplin will mehr: Sein Ehrgeiz zielt auf eine Lustspielfigur mit Charakter und tragischen Zügen ab. Eine Figur, in der sich das breite Publikum wiedererkennt. Ein tragischer Alltagsheld, über den die Kinozuschauer lachen und weinen können. Eine Handvoll Requisiten helfen Chaplin bei der Gestaltung seiner Paraderolle: Ein Paar ausgetretener Schuhe, eine viel zu große schwarze Hose mit dazugehöriger Jacke, eine schäbige schwarze Melone, ein Spazierstock und ein zwei Finger breites schwarzes Oberlippenbärtchen. Es ist die Geburtsstunde des Tramps, der fortan zu Chaplins Markenzeichen und zu einer der berühmtesten Figuren der Filmgeschichte wird. Im Februar 1914 erscheint Charlie, der Tramp erstmals auf der Leinwand. Der Erfolg beim Publikum ist so groß, dass Chaplin bald größeren Einfluss auf seine Filme nehmen kann. Regie, Drehbuch und Schnitt liegen fortan in seiner Hand. Mit "Entführung" entsteht 1915 einer der ersten typischen Tramp-Filme. Die Ausgangssituation entspricht der vieler weiterer Chaplin-Filme: Der gutherzige, aber mittellose Charlie verliebt sich in ein Mädchen aus reichem Hause (Edna Purviance). Doch das Mädchen soll mit einem reichen Aristokraten verheiratet werden. Charlie muss sich Allerhand einfallen lassen, um seine Angebetete für sich zu gewinnen.
Arthaus (Kinowelt Home Entertainment)
Charlie Chaplin - Ein König in New York
Personifizierte Herzensgüte
Chaplins Tramp-Figur ist die personifizierte Herzensgüte: arm und integer. Von kindlicher Naivität und gleichzeitig von der Ritterlichkeit eines Gentleman. Der Tramp steht stellvertretend für die sozial Schwachen und gesellschaftlichen Außenseiter. 1916 thematisiert der Kurzfilm "Der Ladenaufseher" den Gegensatz zwischen den charakterlichen Qualitäten der Figur und ihrem äußeren Erscheinungsbild: Aufgrund seiner schäbigen Kleidung gerät Charlie in einem Kaufhaus unter Diebstahlverdacht. Dabei erweist ausgerechnet er sich als der einzig ehrliche Ladenkunde. In "Der Vagabund" befreit er ein junges Mädchen aus Fron und Knechtschaft, um fortan mit ihm zusammenzuleben. Und in "Ein Hundeleben" nimmt sich der arbeitslose Charlie eines streunenden Hundes an, der ihm wenig später zu viel Geld verhilft. Chaplins Werke sind Märchen für Erwachsene, wenngleich mit realem Hintergrund. Einflüsse wie der Erste Weltkrieg gehen auch an seinen Filmen nicht spurlos vorüber. So spielt Chaplin 1918 in "Gewehr über!" einen amerikanischen Frontsoldaten, der es vom tollpatschigen Rekruten zum Kriegshelden bringt. Nicht überall tragen ihm seine Filme Sympathien ein. In seiner britischen Heimat ist Chaplin zeitweise als Drückeberger verschrien, der seine Arbeit in Hollywood dem Kriegsdienst in der britischen Armee vorzieht.
Lupe
Moderne Zeiten
Waisenjunge wird Großverdiener
In den 1920er Jahren drosselt der unermüdliche Chaplin seinen Ausstoß an Filmen. Längst gehört er zu den bestverdienenden Hollywood-Stars. Mit Mary Pickford, Douglas Fairbanks Sr. und David Wark Griffith gründet er das Filmstudio United Artists. Nichts scheint mehr an den armen Londoner Gassenjungen von einst zu erinnern. In dieser Situation entsteht 1921 Chaplins vielleicht persönlichster Film "Der Vagabund und das Kind". Die Bezüge zu Chaplins eigener Biografie sind offensichtlich: Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Waisenjunge, der in Tramp Charlie einen fürsorglichen Ziehvater findet. Das Publikum wird nicht müde, Charlies grotesk-rührende Leinwandabenteuer zu verfolgen: Sei es die Komödie "Goldrausch", in der es den armen Tramp ins von der Goldgräberstimmung erfasste Alaska verschlägt. Oder "Der Zirkus", Chaplins nachdenklich-komische Studie eines Zirkusclowns wider Willen. Das Aufkommen des Tonfilms in den späten 1920er Jahren bedeutet eine Zäsur im Schaffen von Charles Chaplin. Nur zögerlich bedient er sich der Mittel des Tonfilms. Fürchtet er doch, der Tonfilm könne die Wirkung seiner pantomimischen Mittel untergraben. 1931 kommt sein Film "Lichter der Großstadt" heraus, in dem Tramp Charlie als angeblicher Millionär die Liebe eines blinden Blumenmädchens erringt.
starmedia
Charlie Chaplin - The Limelight Chaplin Films - Box 1
Politische Reizfigur
Noch setzt Chaplin Geräusche und Filmmusik lediglich als vereinzelte Akzente ein. Ein Konzept, dem er auch 1936 bei seiner Satire "Moderne Zeiten" treu bleibt. Diesmal ist Charlie als Fließbandarbeiter zu sehen, der in die Mühlen einer auf absolute Effizienz getrimmten Industrieproduktion gerät. Eine Kapitalismuskritik, die Chaplin den Vorwurf einträgt, unterschwellig kommunistische Propaganda zu betreiben. Noch stärker exponiert sich Chaplin 1940 mit seiner Filmsatire "Der große Diktator", seine geniale Abrechnung mit totalitären Politsystemen, Judenhass und deutlichen Bezügen zu Adolf Hitlers Größenwahn. Konservativen US-Politikern gilt der Pazifist Chaplin längst als Reizfigur. Liebesaffären mit Minderjährigen rücken ihn moralisch ins Zwielicht. Was noch schwerer wiegt: Chaplin stellt mit seinen Filmen das amerikanische Wertesystem in Frage. 1947 wird er deshalb vor das Komitee für unamerikanische Aktivitäten zitiert. Seine Gegner versuchen, ihm die Aufenthaltsgenehmigung entziehen zu lassen. Im Anschluss an eine England-Reise Chaplins im September 1952 kommt es zum Eklat: Dem Filmstar wird die Wiedereinreise in die USA verwehrt. Verbittert lässt sich Chaplin in der Schweiz nieder. Der lebensmüde Alt-Clown, den Chaplin noch kurz zuvor im Film "Rampenlicht" dargestellt hatte, droht zu seiner letzten Lebensrolle zu werden. Zwei Filmprojekte realisiert er doch noch: In "Ein König in New York" reflektiert Chaplin 1957 sein eigenes Schicksal: Er spielt einen Monarchen im Exil, der sich seinen Lebensunterhalt durch Auftritte im Werbefernsehen verdienen muss. Bei seinem letzten Kinofilm "Die Gräfin von Hongkong", einer Liebeskomödie mit Marlon Brando und Sophia Loren, führt Chaplin Regie, begnügt sich jedoch mit einer kleinen Rolle. Das eigene Alter und die veränderten Produktionsbedingungen im Filmgeschäft lassen ihn resignieren. Längst zur lebenden Legende geworden, stirbt Sir Charles Chaplin am 25. Dezember 1977 88-jährig in seinem Haus am Genfer See.
erschienen am 26. Juli 2022
Zum Thema
Für viele ist der in London geborene Sir Charles Chaplin der größte Komiker aller Zeiten. Seine von ihm kreierte Figur des Fred Karno, der ihn erstmals einem breiteren Publikum bekannt macht. Mit Karnos Truppe tourt Chaplin durch England, Frankreich und die USA. 1913 unterschreibt der Komiker bei der D. W. Griffith, Mary Pickford und Douglas Fairbanks gründet Chaplin am 5. Februar 1919 die Filmgesellschaft Der Vagabund und das Kind" ("The Kid") beginnt 1921 seine Spielfilmkarriere. In den..
Weitere Retrofeatures
Charmanter Raufbold: Terence Hill
Wechselhafter Rudolf Platte
2024