Jean-François Martin/Ricore Text
Javier Bardem
Javier Bardem über gewaltloses Europa
Interview: In Amerika vermeidet man Sex
Mit ihrem Westernthriller "No Country for Old Men" fegen die Coen-Brüder durch die Mythen des amerikanischen Südwestens und inszenieren eine meisterhafte Hetzjagd voller Stil und Spannung. Für den spanischen Charakterschauspieler Javier Bardem war seine Rolle als mordender Psychopath trotz allem Jubel mehr als fraglich. Während der Filmfestspiele in Toronto im September 2007 klärte uns der 38-Jährige auf.
erschienen am 27. 02. 2008
Ricore: Mr. Bardem, Sie haben in Ihrer langen Karriere mit vielen Regievisionären gearbeitet, aber die Coen-Brüder sind eine Kategorie für sich. Welches Gefühl hatten Sie, als Ihnen das Drehbuch angeboten wurde?

Javier Bardem: Ich hatte nach dem ersten Lesen durchaus meine Probleme und Bedenken. Denn die Rolle war nicht zwangsläufig von der Art, nach der ich mich immer gesehnt hatte.

Ricore: Was genau bemängelten Sie?

Bardem: Ich bin nun seit fast 28 Jahren im Geschäft und habe während dieser ganzen Zeit nur zwei Filme gedreht, in denen ich Menschen tötete. Mir gefällt die Vorstellung einfach nicht und deshalb sehe ich mir derartige Filme auch nicht allzu oft an. Gewalt ist doch ohnehin schon ständig präsent in unserer Welt! Es entsetzt mich, welche Einstellung Amerikaner zu Waffen haben und wie viel sie darüber wissen. Und genau deshalb hatte ich Bedenken.

Ricore: Sind Sie der Meinung, dass Gewalt in europäischen Filmen weitaus weniger präsent ist, als in amerikanischen?

Bardem: Natürlich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In "No Country for Old Men" gibt es eine Operations-Szene, in der man meinen nackten Hintern sieht. Als ich zwischendurch zum Videomonitor ging, um mir das bereits gefilmte Material anzusehen, fuchtelte ein Teammitglied völlig nervös mit einem Mantel herum, damit ich mein Hinterteil vor den anderen verberge. Ich antwortete ihm: 'Was für ein Problem habt ihr? Es ist vielleicht nicht der schönste Hintern, aber am Ende des Tages ist und bleibt es nur ein Hinterteil!' Wenn im Film dagegen fünf Komparsen über den Haufen geschossen werden, hat damit niemand ein Problem. Ich will das gar nicht weiter kritisieren, denn es ist nun mal ein anderer kultureller Background, aber seltsam finde ich es schon. Wenn in einem spanischen Drehbuch dagegen Waffen vorgesehen sind, fragt sich vor dem Dreh jeder, ob man die wirklich braucht. In Amerika vermeidet man Sex, in Europa Gewalt.

Ricore: Sind Ihnen bei den Dreharbeiten noch andere kulturelle Unterschiede aufgefallen?

Bardem: Eigentlich nicht. Letztendlich sind wir doch alle Menschen, die gegen ihre Angst und Unsicherheit ankämpfen und versuchen, einen Film zu drehen, den sich die Zuschauer gerne ansehen. Zwischen den Worten 'Action' und 'Cut' ist die Situation meist dieselbe. Manchmal erwies sich die fremde Sprache allerdings als ein Problem, sich wirklich völlig einfühlen zu können. Wenn man nicht so gut Englisch spricht, führt das leicht zu einem Gefühl der Isolation.
Jean-François Martin/Ricore Text
Javier Bardem in Cannes 2007
Ricore: Und dann befanden Sie sich während den Dreharbeiten auch noch in Texas!

Bardem: Es war ein ziemlich seltsames, abgehobenes Gefühl, weil ich nur etwa zwei Tage pro Woche drehen musste und in dieser Umgebung auch noch viel Zeit für mich selbst hatte. Also tat ich das, was ich in dieser Situation wohl bestenfalls tun konnte: Ich versuchte dieses Verlorenheitsgefühl in meine Rolle einzubringen.

Ricore: Warum haben Sie die Rolle überhaupt angenommen?

Bardem: Genau deswegen! Ich fragte die Coens am Anfang, warum gerade ich eine so durch und durch amerikanische Rolle spielen sollte. Dann erklärten sie mir, dass meine Filmfigur Chigurth nirgendwo hingehört. Für sie ist er ein Fremder, der nirgends hineinpasst. Einer, der plötzlich da ist und später wieder verschwindet. Ähnlich fühlte ich mich während der Dreharbeiten - und ich fand es spannend, das in meiner Rolle umzusetzen. Außerdem durchleben die Figuren im Film eine entscheidende Wandlung: Anfangs denken sie, dass Gewalt mit Macht gleichzusetzen und dazu noch eine gute Methode ist, Probleme zu beheben. Doch sie müssen im Verlauf der Geschichte bemerken, dass Gewalt, sobald sie einmal angewendet wurde, nur noch Elend und Verderben anrichtet und nicht zu stoppen ist.
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Javier Bardem beim Filmfest in Cannes 2007
Ricore: Gibt es etwas, was Sie durch die Arbeit mit den Coen-Brüdern gelernt haben? Viele - wie ihre Kollegen Tommy Lee Jones oder Josh Brolin - bezeichnen Drehs mit den beiden als absurd, ungewöhnlich und inspirierend.

Bardem: Ich fand das Vertrauen beeindruckend, dass sie ihren Schauspielern entgegenbrachten. Sie verschwenden eine Menge Energie in den Castings, um auch wirklich die richtigen Leute zu finden. Sobald du aber ans Set kommst, gehen sie auf deine Gedanken, Vorschläge und Entscheidungen auf eine sehr ruhige und höfliche Art ein. Es gibt keine großartigen Auseinandersetzungen, keine Kämpfe. Sie wollen, dass du dich so selbstsicher wie möglich fühlst, und lassen dich einfach machen. Außerdem betrachten sie alles immer aus einem leicht komischen Blickwinkel. Es ist kein offensichtlicher Humor. Sie suchen eher die Komik in der Tragik des Lebens. So haben sie mir auch beigebracht, selbst in intensiven Szenen diesen komischen Aspekt nicht zu vergessen. Dies öffnet nicht zuletzt deshalb viele neue Türen, weil man sich so schwerer in der Intensität verfängt und offen ist für Neues.

Ricore: Vielleicht liegt es genau an dieser Einstellung, dass es den Coen-Brüdern in ihren Filmen immer wieder gelingt, bekannte Schauspieler in einem ganz neuen Licht zu zeigen.

Bardem: Das hat sicherlich auch mit ihren ausgefeilten Dialogen und ihrem Talent zu tun, besonderen Wert auf einzelne Verhaltensmanierismen der jeweiligen Rolle zu legen. Sie gehen sehr detailliert vor und schaffen es so, dass sich die Rollen in ihren Filmen nie ähneln.

Ricore: Brauchen Sie nach so einer aufreibenden Rolle Zeit für sich, um wieder in der Realität anzukommen?

Bardem: Eigentlich schon, aber dieses Mal habe ich das nicht getan, weil ich sofort mit den Dreharbeiten zu "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" begonnen habe. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich zwei Filme so dicht aufeinander gedreht habe, aber in diesem speziellen Fall bereue ich die Entscheidung nicht: Es hat mir ermöglicht, in eine ganz entgegen gesetzte Art von Rolle zu schlüpfen. Denn in ähnlich starkem Ausmaß, wie Anton Chigurgh in "No Country for Old Men" den Teufel verkörpert, steht Florentino Ariza in diesem wundervollen Roman für die Liebe an sich.
Paramount Pictures
Szene aus "No Country For Old Men"
Ricore: Was tun Sie normalerweise, um sich wieder von einer Rolle zu distanzieren?

Bardem: Ich nehme mir Zeit für mich selbst, lese, mache ganz normale Dinge und warte geduldig auf das nächste Projekt. Jeder will arbeiten und jeder will sein Geld verdienen, aber bei der Schauspielerei kommt es vor allem darauf an, auf lange Sicht zu planen. Wenn man sich dazu entscheidet, dass man diesen Beruf professionell ausüben möchte, muss man seine Entscheidungen mit Bedacht treffen. Denn selbst Filme, von denen man sich anfangs viel erwartet, funktionieren am Ende oft nicht. Deswegen muss man sich Zeit nehmen, vieles zwei Mal durchzudenken.

Ricore: Werden Sie in den USA nun erkannt?

Bardem: Nein. Im Regelfall kann ich mich in Spanien in einen Flieger setzen, irgendwo auf der Welt aussteigen und mich unbeobachteter fühlen als in meiner Heimat. Vielleicht ändert sich das mit diesem Film, in dem ich zum ersten Mal eine Hauptrolle in einer durch und durch amerikanischen Produktion spiele.

Ricore: Stört Sie Ihr Ruhm?

Bardem: Ich empfinde es zumindest als Erleichterung, außerhalb Spaniens weniger erkannt zu werden. Es ist schon ein seltsamer Widerspruch, mit dem wir Schauspieler zu kämpfen haben: Denn es gibt sicherlich einen kleinen Prozentsatz an Leuten, die lediglich berühmt werden wollen. Aber die meisten von uns lieben einfach nur ihren Beruf. Aber wir brauchen die Öffentlichkeit, um unseren Job ausüben zu können. Spiele ich, und niemand sieht es, hat mein Auftritt keine Bedeutung. Bei der Malerei ist es ähnlich: Wenn ich male, ohne dass ich das Ergebnis jemals zeige, hat das Bild keine künstlerische Bedeutung.

Ricore: Nun kann man aber auch einfach für sich selbst und sein eigenes Wohlbefinden an Kunst arbeiten, oder nicht?

Bardem: Eine künstlerische Bedeutung entsteht allerdings erst dann, wenn man eine Ausdrucksform dem Urteil anderer aussetzt, die es entweder mögen oder nicht. Um das zu erreichen, arbeitet man in der Öffentlichkeit, auch wenn man eigentlich kein Interesse daran hat, als Person Teil dieser Aufmerksamkeit zu werden. Genau hier liegt für mich der Widerspruch. Wenn "No Country for Old Men" auf der ganzen Welt gestartet ist, wird man mich vielleicht auch international häufiger erkennen. Die Vorstellung gefällt mir zwar nicht, aber gespielt habe ich die Rolle trotzdem.
erschienen am 27. Februar 2008
Zum Thema
"No Country for Old Men" unter der Regie der oscarprämierten Brüder Ethan und Joel Coen ist eine zum Nachdenken anregende Abhandlung über den American Way of Life. Ein actionreicher Krimi, bei dem ein unglücklicher Zufall eine Welle von Gewalt und Chaos auslöst. Die Hauptrollen der Romanverfilmung spielen Josh Brolin, Javier Bardem und Tommy Lee Jones. Das mehrfach für den Golden Globe nominierte Werk ist der bisher gewalttätigste Film der erfolgreichen Regisseure.
Der 1969 in Las Palmas de Gran Canaria geborene Schauspieler wurde wie kein zweiter spanischer Künstler mit Preisen überhäuft. Kein Wunder, stammt er doch aus einer alten Schauspielerdynastie. Seine Eltern, Großeltern und Geschwister haben bereits als Regisseure und Schauspieler Erfahrungen gesammelt. Vor seiner Schauspielausbildung studierte Javier Bardem Malerei und war Mitglied der spanischen Rugby-Nationalmannschaft. Im Rahmen der Preisverleihung des spanischen Goyas für die beste..
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