Jean-François Martin/Ricore Text
Tilda Swinton (Berlinale 2008)
Alkohol und Underground
Interview: Einsame Tilda Swinton
Lange Zeit galt Tilda Swinton als Underground-Ikone. Doch zuletzt schien es, als wolle sie sich von diesem Image befreien. Vermehrt ist sie nun in Hollywoodproduktionen zu sehen. Warum sie eine solche Entwicklung nahm, erzählt sie uns in einem Gespräch zu ihrem neuen Film "Julia", in dem sie die gleichnamige, alkoholabhängige Titelfigur spielt. Swinton selbst trinkt keinen Tropfen Alkohol, zum einen weil sie ihn nicht verträgt, zum anderen weil sie Alkohol als gefährliche Gesellschaftsdroge empfindet.
Von
erschienen am 14. 06. 2008
Buena Vista International (Germany)
Tilda Swinton auf der Londoner Premiere von: "Der König von Narnia"
Ricore: Julia ist eine Frau, die egoistisch durchs Leben stapft, zu viel trinkt und sich ständig am Abgrund bewegt. Was mochten Sie dennoch an ihr?

Tilda Swinton: Ich mag diese extremen Figuren. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, ich kenne Julia. Eine fast chancenlose Frau, die sich in Lügengespinste verstrickt, immer irgendwelchen Herausforderungen gegenüber steht, die sie nicht erfüllen kann. Jeder Mensch verliert mal die Balance, die eigene Kraft und Kontrolle und bewegt sich am Abgrund entlang. Es gibt Situationen, wo wir eine Entscheidung fällen müssen, die unsere weitere Existenz betrifft, unsere Zukunft. Julia entscheidet falsch, tritt mit aller Macht aufs Gaspedal und rast ins Verderben, ein persönliches Desaster. Mir gefiel vor allem ihre ausgeprägte Energie. Sie trinkt, um sich gegen die Wirklichkeit zu betäuben, lügt sich die schön, auch wenn ihr dabei das wahre Leben sukzessive entgleitet.

Ricore: Wie spielt man eine solche Trinkerin?

Swinton: Sie werden lachen. Ich trinke so gut wie keinen Alkohol, vertrage ihn auch nicht. Das war die beste Vorbereitung für diese Rolle. Als ich noch jünger war, habe ich immer so getan, als sei ich betrunken. Dabei war ich immer die Nüchterne, die letztendlich nachts dann alle nach Hause fahren musste, wenn die Polizei auftauchte. Ich kenne sehr viele Leute in deren Leben oder dem ihrer Familie der Alkohol eine große Rolle spielt. Das Problem wird meistens unter den Teppich gekehrt. Man trinkt immer öfter ein Glas zu viel und jeder weiß davon, aber niemand spricht darüber. Mir fehlt der Draht zu harten Getränken, aber ich verstehe diese Abhängigkeit. Jeder von uns ist doch mal abhängig von irgendwas oder irgendjemand, schlittert in eine schwierige Situation. Bei Alkoholismus glaube ich nicht, dass man da nur so reinschlittert, sondern dass man sich da hinein schmeißt, um sich stärker zu fühlen und sich einbildet, die Wirklichkeit ändern zu können - ein Unsinn, die Wirklichkeit bleibt so wie sie ist, nur der Blick darauf ändert sich. Meine Erfahrung mit Alkoholikern ist die, dass sie vor Energie sprühen, selbst wenn sie depressiv sind. Die Lust auf den nächsten Drink treibt sie an.
Kinowelt
Szene aus "Julia"
Ricore: Alkohol ist in unserem Kulturkreis eine legale Droge, das Trinken - in gewissem Maße jedenfalls - gesellschaftlich akzeptiert.

Swinton: Ich würde sogar noch weiter gehen. Alkoholismus ist eine Volkskrankheit. Auf Langstreckenflügen bin ich jedes Mal erstaunt, was die Leute alles in sich hineinschütten. Dieses Verhalten wird toleriert, gehört wohl dazu. Es gab Zeiten, wo es noch schlimmer war, als heute. Was mich wundert ist diese Scheinheiligkeit. Wir sollten uns mal Gedanken machen, warum die Gesellschaft bei Männern ein Auge zudrückt und Frauen die trinken, als anstößig gelten.

Ricore: Greifen Frauen zur Flasche, weil sie zwischen Kind, Karriere und Familie oft nicht mehr klar kommen?

Swinton: Die Gründe und Motive sind vielfältig. Männer beschäftigen sich viel mehr mit sich selbst und stellen sich eher in den Mittelpunkt. Frauen verlieren da eher die Beziehungen zu anderen und zu sich selbst. Das ist schon ein Tabu. Eine kaputte Frau wie Julia, die in Bars herumhängt, daran ist nichts Romantisches. Sie wirkt verführerisch und zieht die Blicke der Männer auf sich, aber am nächsten Morgen kommt die Ernüchterung. Sie fühlt sich wie der letzte Dreck, wenn sie mit einem wildfremden Typen von der Rückbank des Autos aufsteht und schwankend in den Morgen stöckelt. Da bleibt mehr als nur ein kleiner Kopfschmerz, da bleibt ein kleiner seelischer Widerhaken.

Ricore: Erstaunlich an dieser Julia ist diese völlige Freiheit von mütterlichen Instinkten oder Gefühlen, die man von Frauen erwartet.

Swinton: Sie ist ein exotisches Tier, ohne jegliche mütterliche Gefühle, im Gegenteil, ein Monster an mangelnder Mütterlichkeit. Im Kino finden wir solche Frauen selten, da wimmelt es nur von liebevollen Müttern.
Jean-François Martin/Ricore Text
Tilda Swinton
Ricore: Julia ist ein Energiebündel, eine Kämpferin und immer "on the run". Wie haben Sie die Rolle psychisch und physisch gemeistert?

Swinton: Regisseur Erick Zonca und ich stimmten darin überein, Julia in aller Radikalität zu zeigen, wie sie von einer Krise in die nächste taumelt, in ihrem ständigen Kampf gegen sich selbst und in eigentlich aussichtslosen Situationen, in ihrer totalen Erschöpfung, aus der sie sich dann wieder aufrappelt. Für mich eine ganz neue Erfahrung, so weit von mir weg habe ich noch nie eine Person verkörpert. Julia und ich ähneln uns auch äußerlich nicht. Ich habe mich in sie hineinbegeben, in ihr Inneres gestürzt. Die Darstellung hat mir schon einiges abverlangt, auch physisch. Wenn es mal hart auf hart ging, fingen mich Zonca und das ganze wunderbare Team auf, eine große emotionale Unterstützung.

Ricore: Sie haben mal geäußert, Einsamkeit sei der Deal des modernen Lebens. Ist diese Einsamkeit das Bindeglied zwischen der Filmfigur und Ihnen?

Swinton: Einsamkeit ist für mich immer ein wichtiges Thema und das spiegelt sich oft auch in den Figuren, die ich spiele - wie in der Konzern-Justiziarin Karen Crowder in "Michael Clayton". So weit ich mich erinnern kann, empfand ich mich immer als einsam und finde nichts Schlimmes daran. Ich bin ja nicht die Einzige! In Gesellschaft von einsamen und isolierten Menschen fühle ich mich wohl. Aliens unter sich, das hat doch was! Ehrlich, wir sind doch alle Loners, je eher wir das akzeptieren und nicht dagegen kämpfen, umso besser. Man darf vor dieser Realität nicht weglaufen, sondern muss sich ihr stellen. Als Kind litt ich unter meinen drei Brüdern und ihrer entsetzlichen Lautstärke. Da bin ich manchmal in die Stille und Einsamkeit geflohen, im Alleinsein spürte ich eine Art unbekannter Freiheit.
Buena Vista International (Germany)
Tilda Swinton als Weiße Hexe in "Der König von Narnia"
Ricore: Als "Muse" von Derek Jarman begann Ihre Karriere im künstlerischen Bereich, sie galten als Underground-Ikone. Inzwischen sieht man sie auch in Hollywoodproduktionen wie als Weiße Hexe in "Die Chroniken von Narnia". Gleichzeitig haben Sie "Derek" produziert, eine Hommage an den verstorbenen Kult-Regisseur. Wie passt das zusammen?

Swinton: Für mich hat sich in der Arbeitsweise nichts geändert. Derek Jarman, das sind meine Wurzeln. Sein Tod ist ein großer Verlust für uns alle. Der Grund, dass ich in der letzten Zeit einige Hollywoodfilme drehe, ist einfach - ich erhielt entsprechende Angebote und ich verfüge jetzt auch über mehr Zeit, meine Kinder sind alt genug, meine Abwesenheit zu verkraften und zu verstehen. Diese Hollywoodfilme sind wie große Partys, zu denen man eingeladen ist. Sie machen Spaß und ich treffe interessante Leute. Die aufregenden Dreharbeiten von "Die Chroniken von Narnia" in Neuseeland und die Bequemlichkeiten einer Megaproduktion habe ich genossen. Alles Neuland für mich. Und eines dürfen Sie nicht vergessen. Diese Popularität unterstützt engagierte Filme wie "Michael Clayton" oder "Julia", die im Fahrwasser großer Produktionen zusätzliche Aufmerksamkeit gewinnen können. Dafür bin ich dankbar. Wenn ein Disney-Film mehrere hundert Millionen Dollar Box-Office macht, das hilft. Im neuen, teuren David Fincher-Film "The Curious Case of Benjamin Button" an der Seite von Brad Pitt vor der Kamera zu stehen, halte ich für eine tolle Sache.
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2024