Ricore
Andres Veiel zum Mythos Schauspielkunst
Interview: Große Erwartungen!
Mit "Black Box BRD" gewann Andres Veiel (45) den Bayerischen, den Deutschen und den Europäischen Filmpreis. Mit "Die Spielwütigen" holte er sich den Panorama-Publikumspreis auf der Berlinale 2004. Kein Wunder bei diesem Thema: Über einen Zeitraum von sieben Jahren begleitet Veiel vier junge Schauspielschüler auf ihrem steinigen Weg zum Traumberuf - vom Vorspielen an der Ernst-Busch-Schauspielschule bis zu ihren ersten Engagements. Veiels dokumentarische Langzeitbeobachtung zeigt den Kampf der Aspiranten, die sich zwischen hohen Erwartungen und dem eigenen Können aufzureiben oder zu verlieren drohen.
erschienen am 2. 06. 2004
Constanze Becker geht mit Ernsthaftigkeit an ihre Mission
Ricore: Herr Veiel, wie kamen Sie vor sieben Jahren auf die Idee, eine Langzeitdokumentation über vier junge Schauspieltalente zu drehen?

Andres Veiel: Ich bin älter geworden und habe mit der nächsten Generation nichts mehr gemein. Also wollte ich eine Geschichte über Jugendliche Anfang zwanzig drehen, die eine andere Erziehung erleben als ich. Also ohne Eltern, die wegen des zweiten Weltkriegs ihre Kinder am liebsten in soliden Berufen sehen wollten. Ich selbst musste damals für meinen Lebensweg hart kämpfen - wie alle, die abseits vom Weg gesucht haben. Heute gibt es diesen Generationenkonflikt nicht mehr, Eltern sind wesentlich kulanter. Da ist es doch interessant zu beobachten, wie vollkommen unvorbereitete Jugendliche in den gnadenlosen Wettbewerb der Ernst-Busch-Schauspielschule eintauchen und sich plötzlich jeden Tag aufs Neue beweisen müssen. Jeder ist Konkurrent, jeder könnte dir später dein Engagement wegschnappen. "Spielwut" definiert sich also als Obsession, als unbedingter Wunsch, einem Traum bedingungslos zu folgen. Übrig bleibt die Frage: Was ist Erfolg, und was ist der Preis dafür?

Ricore: In der Regel ein Theaterengagement, das schlecht bezahlt ist.

Veiel: Die Ernst-Busch-Schauspielschule ist ein absolutes Eliteinstitut. Neunzig Prozent der Abgänger finden ein Engagement, auch wenn es nur ein kleines Theater ist. Wenn man bedenkt, dass heutzutage viele Theater schließen müssen und Dramaturgen bis zu 30 Bewerbungen täglich erhalten, ist diese Quote sehr beachtlich. Der eigentliche Preis definiert sich anders. Man wird einsam, das Privatleben leidet unter den Anforderungen. Ein Teil der Persönlichkeit geht verloren, eine gute Portion Optimismus und Anpassungsvermögen sind unumgänglich. All diese Probleme wollte ich in "Die Spielwütigen" ausarbeiten.

Ricore: Wie konnten Sie sicher sein, dass Karina, Stephanie, Konstanze und Prodomos über all die Jahre diese Facetten offen und ehrlich vor der Kamera zum Ausdruck bringen würden?

Veiel: Gar nicht! Wie bei einem Pferderennen musste ich Wetten abschließen und mich auf meinen Instinkt verlassen. Die Vorauswahl war dementsprechend umfangreich. Aus insgesamt 200 Bewerbern habe ich mir zwanzig Schauspieler ausgesucht, die mich durch ihr Talent emotional berührt und in persönlichen Gesprächen nicht genervt haben. Zu oft verliefen die Gespräche zu aufgesetzt, klangen wie ein großes Rauschen und haben mich dementsprechend gelangweit. Ich glaube, dieses Rollengetue bringt die Profession zwangsläufig mit sich. Meine Darsteller sollten jenseits dieser Berufsegozentrik noch Neugierde aufs Leben haben. Denn nur, wenn jemand sein eigenes Leben reflektieren kann, entwickeln sich spannende Themen.
Stefanie Stremler scheitert zunächst an der Aufnahmeprüfung
Ricore: Den verbliebenen zwanzig Bewerbern folgten Sie anschließend zur Aufnahmeprüfung, bei der insgesamt neun Personen einen Studienplatz bekamen. Im Film jedoch beleuchten Sie nur vier Personen. Fühlten sich die verbliebenen Mitstudenten da nicht gekränkt?

Veiel: Es war völlig absurd. Alle neun dachten, dass Sie mit der erfolgreichen Aufnahmeprüfung ein Doppelticket gelöst hatten: Schule und Film in einem. Aus nachvollziehbaren Gründen boykottierten diese Leute später mein Projekt. Die Schule spaltete sich in zwei Fronten, auch unterhalb der Lehrer. Die einen empfanden uns als Störung und hatten Angst vor Transparenz und Offenlegung der Unterrichtsmethoden. Die anderen sahen in uns die Möglichkeit zu reifen und besser zu werden. Wo es ging, versagte man uns die Zusammenarbeit. Die einen ließen uns nicht ins Seminar, andere wollten nicht verkabelt werden. Eigentlich bin ich sehr routiniert bei so etwas, immerhin durfte ich nach heftigem Intervenieren schon in Chefetagen und Hochsicherheitsgefängnissen arbeiten. So etwas ist mir bis jetzt aber noch nicht passiert. Sie hielten mich für einen Geier, der sich an ihren Niederlagen weiden wollte. Einige zierten sich sogar bei den banalsten Proben.

Ricore: Wie haben Sie bei all diesen Problemen den Dreh strukturiert?

Veiel: Um maximale Intimität zu bekommen, habe ich mit einem sehr kleinen Team gearbeitet und bei den Einstellungen überwiegend auf Großaufnahmen der Gesichter geachtet. Ich wollte zeigen, wie sich Menschen über sieben Jahre verändern, wie sie erwachsen werden. Eine ermogelte Nähe wäre fehl am Platz gewesen. Insgesamt hatten wir hundert Drehtage, von denen ich die ersten zwanzig gleich am Anfang verbraucht habe. Um zu verdeutlichen, dass ich präsent bin und trotz unstimmiger Ansichten über unser Projekt keinen Millimeter zurückweiche. Gab es einen Konflikt, fuhr ich sofort hin und versuchte Material zu bekommen. Natürlich hatte man sich da bereits wieder verständigt, den Konflikt nicht nach außen zu tragen. Also blieb ich vier Stunden und wartete auf genau die paar Minuten, in denen sie sich nicht unter Kontrolle hatten. Denn der Konflikt war unterschwellig ja noch immer vorhanden und ließ sich auf Dauer nicht verheimlichen.

Ricore: Ihre Schilderungen erinnern an ein Zitat im Film: Schauspieler müssen etwas verrückt sein, um ihren Beruf ausüben zu können.

Veiel: Es gibt zwei Arten: Die einen haben ein schönes Gesicht und decken aus handwerklicher Sicht die Bedürfnisse eines Regisseurs. Andere dagegen haben kein universelles Covergesicht, dafür aber einen ureigenen Kern. Sie sind schräg, sperrig und nerven den Regisseur bei der Arbeit. Dafür bekommt man aber die unbezahlbare Kraft des Authentischen. Kindlichkeit und Philosophie liegen besonders in diesem Beruf ganz dicht beieinander. Vor allem bei Stephanie, die sich trotz 27 vorangegangener Ablehnungen nicht unterkriegen ließ und schließlich doch genommen wurde.
Auf dem Weg auf die Bretter, die die Welt bedeuten
Ricore: Mittlerweile sind Ihre drei Darstellerinnen an Theatern in Dresden, Düsseldorf und Kassel, Prodomos arbeitet quer Beet und hofft nach einem gescheiterten Anlauf in New York auf die Rolle seines Lebens. Ist dieses Ergebnis in Ihren Augen ernüchternd oder die Erfüllung der alten Sehnsüchte?

Veiel: Neutral betrachtet sind eigentlich alle erfolgreich. Dennoch sieht man hier die vorhin angesprochene Zwiespältigkeit des Erfolges. Karina zum Beispiel geht in ihrer Arbeit zwar auf, ist aber wahnsinnig einsam. Die Schule hat auf ihr gesamtes Leben abgefärbt, noch heute denkt sie mit gemischten Gefühlen an die Zeit zurück, in der sie Staub fressen musste. Alle haben Blessuren erlitten - trotz oder gerade wegen ihrer Eliteausbildung. Dieser Beruf versucht mit Stichworten wie Erfolg, Beifall und Applaus von Anfang an einen bestimmten Mythos zu verkaufen. Es ist wie eine Droge, deren Dosis am besten immer höher werden soll. Irgendwann muss der Turm aber umkippen. Erfolg ist tückisch, gerade in Deutschland. Hat jemand die Spitze erreicht, folgt meist unausweichlich die mediale Vernichtung.

Ricore: Für Schauspielerei gibt es bekanntlich keine Grenzen. Sehen Sie das bei Ihrer Regiearbeit genauso?

Veiel: Nein. Meine Arbeit hört da auf, wo ich einen Protagonisten denunziere oder ihn zur Karikatur mache. Peinliche Situationen müssen manchmal sein, aber sobald die Stimmung umkippt und jemand lächerlich wirkt, schalte ich die Kamera ab. Tränen zum Beispiel brauchen eine lange, behutsame Hinführung. Der Zuschauer soll mitfühlen und sich nicht wie ein Voyeur am Schicksal anderer weiden. Das kommt bei den deutschen Casting-Shows im Fernsehen schon genug vor. Meistens ist es besser, bestimmte Dinge nicht zu zeigen, sondern nur einen Hinweis zu geben. Meine Szenen spielen in der Regel kurz vor oder nach dem eigentlichen Zusammenbruch.

Ricore: Hat sich Ihre persönliche Einstellung zu Leben und Beruf in den letzten sieben Jahren auch verändert?

Veiel: Neben dem ergebnisoffenen Prozess bei "Die Spielwütigen" habe ich parallel auch "Blackbox BRD" gedreht. Da konnte ich sehr viel detaillierter planen und Regieanweisungen geben. Anfangs sah ich "Die Spielwütigen" als Rückschritt, doch das stimmt nicht. Jeder Film hat seinen Nutzen. Ich bin immer zwischen dokumentarischem Beobachten und Inszenieren gependelt, habe das Beste aus jeder Arbeitsweise herausgefiltert. Trotzdem: Ich bin ungeduldiger geworden und weiß inzwischen sehr genau, was ich will. Umwege kann ich nicht mehr gebrauchen, dafür ist das Leben zu kurz und beschränkt. Ich bin eben eine andere Generation und nicht mehr bereit für bestimmte Erfahrungen. Wie sagte Heiner Müller so schön: Über die Differenz von Erfahrung lässt sich nicht diskutieren. Trotz alledem war und ist der Kontakt zu den vier jüngeren Schauspielern eine Inspiration und wunderbare Bereicherung.
Robert De Niro ist für Antoniadis Prodromos das große Vorbild
Ricore: Früher haben Sie in einem Berliner Gefängnis als Theaterregisseur gearbeitet. Inwiefern hat das Ihre spätere Regiearbeit beeinflusst?

Veiel: Ohne diese Menschen idealisieren zu wollen, muss ich sagen, dass in vielen kreatives Potential vorhanden war. Zum Teil gab es richtig begabte Schauspieler. Bekanntlich sollte Theater wie Fußball sein. Bei den Aufführungen in der Gefängnis-Turnhalle war ich diesem Zustand sehr nahe. Die Knastbrüder haben getobt, geschrieen, gelacht und geweint. Ein Stück Alltag in einem Knast voller Tabus. Trotzdem subtil und leise, voller Komik und Tragik. Dort bin ich zum ersten Mal auf die Kraft des Authentischen gestoßen, auf die Präsenz, die Menschen mit Erfahrung ausüben können. Im Grunde genommen suche ich noch immer ständig danach. Regie bedeutet für mich, Vertrauen aufzubauen, von der Lüge wegzuführen und Menschen so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Eine Schutzhülle zu bieten, in der sie sich entfalten können. Wenn ich in einer Szene den Gedanken eines Menschen folgen kann und nach kurzem Schweigen plötzlich noch ein Nachsatz fällt, der einen neuen Aspekt beleuchtet oder gar die Stimmung verändert, dann fühle ich mich belohnt. Dann bin ich am Ziel meiner Suche angelangt.

Dokumentarfilme von Andres Veiel

"Balagan" (1994) - hebräisch für das Chaos in Kopf und Bauch - zeigt zwei jüdische und einen palästinensischen Schauspieler aus Israel, die seit neun Jahren zusammenarbeiten und dabei die erdrückenden politischen Probleme aufarbeiten, in die die Geschichte sie gestellt hat. Ausgezeichnet mit dem dt. Filmpreis in Silber.

"Die Überlebenden" (1996) ist ein mit dem Grimme-Preis ausgezeichnetes Porträt einer deutschen Schülergeneration, Abiturjahrgang 1979. Beim Klassentreffen nach 17 Jahren fehlen allerdings drei Mitschüler. Sie haben sich in den letzten Jahren umgebracht. Veiel zeichnet ihre Biographien aus den Erinnerungen von Freunden, Eltern, Arbeitskollegen und anderen "Überlebenden" nach. Seine Analyse reicht dabei bis in die Nazivergangenheit zurück, beleuchtet aber auch individuelle Probleme wie Homosexualität.

"Black Box BRD" (2001) ist ein mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilm über einen Täter und sein Opfer: den 1993 in Bad Kleinen erschossenen RAF-Terroristen Wolfgang Grams und den Banker Alfred Herrhausen, der 1989 von der RAF ermordet wurde. Veiel zeigt in Interviews, was die beiden zu dem machte, was sie wurden.

"Die Spielwütigen" (2004) begleitet vier junge Schauspielschüler sieben Jahre lang auf ihrem steinigen Weg vom ersten Vorspielen an einer Schauspielschule hin zu ihrem Traumberuf - und zeigt, welche Träume dabei auf der Strecke bleiben.
erschienen am 2. Juni 2004
Zum Thema
Vier angehende Schauspieler träumen von der glamourösen Karriere. Doch der Weg dahin ist hart und nur wenige kommen am Ziel an. Sieben Jahre lassen sich die vier Studenten der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin (HfS) Stephanie Stremler, Karina Plachetka, Constanze Becker und Prodromos Antoniadis von Dokumentarfilmer Andres Veiel mit der Kamera begleiten. Vielschichtiges Portrait über den Berufsstart von vier Schauspielern.
2024