Progress Film-Verleih
Ulrich Matthes in Der Neunte Tag
Ulrich Matthes über Skrupel bei der Rollenwahl
Interview: Heikles Unterfangen
Eigentlich wollte Ulrich Matthes Lehrer werden, nimmt aber während des Studiums privaten Schauspielunterricht. Als 27-Jähriger wird er mit dem Düsseldorfer Förderpreis als bester Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet. Seitdem arbeitet Matthes an Deutschlands wichtigsten Schauspielhäusern und macht sich durch zahlreiche TV- und Kinoprojekte einen Namen. 2003 absolviert Matthes die bisher schwierigste Phase seiner Karriere: Als Josef Goebbels erlebt er zunächst in Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" die letzten Tage des Hitler-Regimes und muss sich schon kurz darauf in Volker Schlöndorffs Film "Der Neunte Tag" in die Rolle des KZ-Häftlings Henri Kremer hineinversetzen. Im Interview erzählt uns der 45-jährige Berliner von Bedenken, Schwierigkeiten und Hoffnungen.
erschienen am 15. 11. 2004
Progress Film-Verleih
Perspektiven von Goebels und eines KZ-Häftling an einem Tag!
Ricore: Filme über das Dritte Reich sind schwere Kost, Sie aber mussten sich dabei auch noch in zwei ganz gegensätzliche Seiten hineinversetzen. Hat Sie das psychisch strapaziert?

Ulrich Matthes: Es ist natürlich eine Härte, sich diesen extremen Rollen innerhalb einer so kurzen Zeitspanne auszusetzen. Immerhin blieben nur zwei Wochen, um von der Täter- in die Opferrolle zu wechseln. Aber ich empfand es als großes Privileg, an diesen Projekten beteiligt zu sein. Ich musste parallel arbeiten, habe zur selben Zeit Bücher von Goebbels und Primo Levi gelesen. So kam es, dass ich mich an einem Tag mit Goebbels Schilderung der technischen Probleme bei der Verteilung von Judensternen beschäftigte und ein paar Stunden später mit den demütigenden Gefühlen, die einen Juden damals bei der ersten Ausgrenzung im Alltag beschlichen.

Ricore: Für Schlöndorffs "Der Neunte Tag" haben Sie etliche Kilos abgenommen. Wie war das mit Ihrer vorangehenden Rolle als Goebbels zu vereinbaren?

Matthes: Goebbels war kurz vor Kriegsende in keiner guten Verfassung, sah also ziemlich mager aus. Es war auch nicht nötig, wie sein Zwillingsbruder auszusehen. Meine Grundphysiognomie sollte auf beide Rollen passen, und das war der Fall. Ich wollte in erster Linie die Persönlichkeitsstrukturen der Rollen ausarbeiten, die unterschiedlicher nicht sein können: die extreme, extrovertierte Energie Goebbels, die bis zum letzten Atemzug destruktiver wird, und die sehr persönliche, introvertierte und stumme Konzentration Kremers.

Ricore: Was genau haben Sie bei Ihren intensiven Vorbereitungen gelernt?

Matthes: In Büchern von KZ-Überlebenden trifft man immer wieder auf eine absolute Fremdheitserfahrung. Bei der Rückkehr aus dem KZ wird die vermeintliche Realität fast schon zu einem irrealen Zustand, die Erfahrungen lassen einfach nicht zu, seine Heimat wieder zu finden. Von dieser totalen Einsamkeit handelt auch der Film. Nicht Familie und Angehörige, sondern nur das eigene Gewissen kann mit diesem Zustand fertig werden.

Ricore: Bei welcher Rolle haben Sie mehr gelitten?

Matthes: Das kann ich so nicht sagen. Bei Goebbels war es schwierig, nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Naziregime und dessen Gräueltaten so eine Figur verkörpern zu müssen. Irgendetwas in mir hat sich dagegen gewehrt, eine solche Art von Nähe wollte ich zu einem Massenmörder eigentlich nicht herstellen. Entsprechend lange habe ich mit der Entscheidung gehadert, dem Angebot zuzustimmen. Genauso war es bei "Der Neunte Tag": Da musste ich erst einmal den Skrupel ablegen, als gut bezahlter Schauspieler einen KZ-Häftling zu spielen.
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Bekommt zu wenig romantische Liebesgeschichten angeboten
Ricore: Was hat Sie letztendlich überzeugt?

Matthes: Um Adorno zu zitieren: Ich glaube sehr daran, dass man auch nach Auschwitz wieder Gedichte schreiben sollte. Man muss versuchen, sich mit dem heutigen Bewusstsein diesem Thema zu stellen. Denn die Geschichte ist nach wie vor nicht bewältigt. Natürlich ist es ein heikles Unterfangen, mit einer Kamera das Leid in einem KZ zu schildern. Wir haben versucht, dabei verantwortungsbewusst wie möglich vorzugehen.

Ricore: Hatten Sie bei "Der Untergang" ähnlich ausführliche Proben wie bei "Der Neunte Tag"?

Matthes: Nein, bei Schlöndorff hatten wir die Chance, wie am Theater tagelang zu proben, Texte zu verändern und wieder alles umzuschmeißen. Diese Theaterbedingungen gab es bei "Der Untergang" nicht. Es war aber immer Zeit, eine schwierige Szene noch einmal durchzusprechen. Der Zeitdruck war also nicht spürbar.

Ricore: Sind Sie erleichtert, dass beide Projekte nun abgeschlossen sind?

Matthes: Bei beiden Filmen war ich am jeweils letzten Drehtag sehr traurig. Es war ein wundervolles Arbeiten, und davon musste ich Abschied nehmen. Gleichzeitig hatte ich aber auch dieses Gefühl der Ungewissheit. Mich beschäftigte, ob meine Leistung gut genug war und ob die besten Szenen auch wirklich den Schneideraum überleben.

Ricore: Vermutlich sehnen Sie sich nun nach leichterer Kost?

Matthes: Schon, aber romantische Liebesgeschichten bekomme ich leider nicht so oft angeboten. Man wird einfach in eine Schublade gesteckt, klagen ist da zwecklos. Es ist offenbar das schreckliche Gesetz der Filmbranche.
erschienen am 15. November 2004
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Eigentlich wollte Ulrich Matthes Lehrer werden, nimmt aber während des Studiums privaten Schauspielunterricht. Als 27-Jähriger wird er mit dem Düsseldorfer Förderpreis als bester Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet. Seitdem arbeitet Matthes an Deutschlands wichtigsten Schauspielhäusern und macht sich durch zahlreiche TV- und Kinoprojekte einen Namen.
Der Neunte Tag (Kinofilm)
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2024