Constantin Film
Ralf Huettner
"So sind wir eben"
Interview: Ralf Huettner und die Seele
Ralf Huettner gehört zu den vielseitigen Regisseuren hierzulande. In den 1990er Jahren inszeniert er die Filme zweier deutscher Komiker: "Texas - Doc Snyder hält die Welt in Atem" mit Helge Schneider und "Voll Normaaal!" mit Tom Gerhardt. Zusammen mit seinem Freund Dominic Raacke ("Tatort") schafft er drei Teile der charmanten Polizeikomödie "Die Musterknaben". Wir trafen den Münchner nach den Dreharbeiten von "vincent will meer", einem bittersüßen Roadmovie über die Freundschaft dreier Ausreißer, die mit ihren psychischen Makeln zu kämpfen haben. Wir fragten nach, was Huettner über das Tourette-Syndrom denkt, wie er das Publikum einbezieht und was ihn morgens zum aufstehen motiviert.
erschienen am 17. 04. 2010
Constantin Film
vincent will meer
Ricore: Wie sind Sie auf das Drehbuchdebüt von Florian David Fitz gekommen und was war Ihr erster Gedanke?

Ralf Huettner: Ich wurde angerufen, ganz banal. Als ich es gelesen habe, war ich total gerührt und dachte, ich möchte den Film unbedingt machen. Mir hat von Anfang an die Entwicklung, die Veränderung, fasziniert, die diese Figuren durchmachen. Es sind zwar nur kleine, aber das macht den Film aus.

Ricore: "vincent will meer" ist ja ein Roadmovie.

Huettner: Die Veränderungen gehören zum Genre dazu. Eine andere Umgebung verändert auch die Leute. Aber es ist ja eigentlich nur ein Fünf-Personen-Stück, wenn man genau hinsieht. Das Tolle an dem Film ist, dass so verschiedene Leute zusammengemixt werden. Man kommt gar nicht auf die Idee, dass die drei abhauen wollen. Das wollen sie ja auch gar nicht so recht. Es passiert einfach irgendwie. Und dann haben sie untereinander noch so viel zu tun: der Vater mit dem Sohn, Dr. Rose mit Marie, Dr. Rose mit dem Vater. Da geschehen Dinge, die man nicht mehr auserzählen muss. Die große Aufgabe war es, nicht so sehr darauf einzugehen, nicht zu viel Gas zu geben. Nein, man muss nicht zeigen, wie die noch ins Bett gehen und ein Paar werden. Wie weit wir gehen und mit den Entwicklungen spielen hat große Diskussionen verursacht.

Ricore: Hat Ihnen dieses Drehbuch mehr Respekt eingeflößt, als andere Projekte?

Huettner: Auf der einen Seite war ich wie gesagt berührt. Auf der anderen war mir klar: Damit der Film berührt, muss Du sehr ehrlich und wahrhaftig mit diesen Krankheiten umgehen. Es gibt nichts Schlimmeres als Filme, die diese Krankheiten benützen, um sich lustig zu machen. Wenn man keine Balance findet, kann sich das Thema total gegen den Film, die Charaktere und den Regisseur wenden. Sonst wird es ausbeuterisch. Das zu vermeiden, war meine Herausforderung. Wir haben Szenen doppelt gedreht, weil wir nicht wussten, wie lange die obszönen Flüche von Vincent noch lustig sind. Ein-, zweimal ist es lustig, beim dritten Mal kann es schon ganz anders sein. Während dem Dreh verliert man leicht den Überblick.
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Ralf Huettner am Set von "vincent will meer"
Ricore: Wie sollte eine Gesellschaft mit psychisch Kranken umgehen?

Huettner: Das ist eine ganz schwierige Frage. Das hängt von den Familien, den Therapiezentren und den Ärzten ab. Am schönsten wäre es, wenn es seine eigene Familie wäre, die ihn auffangen könnte und es keine Heime mehr bräuchte. Die ganze Abschiebetendenz sollte zurückgehen und wir sollten lernen, im Alltag mit den Krankheiten umzugehen.

Ricore: Psychisch Kranke werden heute eher geächtet.

Huettner: Bei Tourette ist es noch nicht so schlimm. Sie leben ja häufig in den Familien. Aber wenn ein magersüchtiger Mensch einen gewissen Punkt überschreitet und es lebensbedrohlich wird, muss man eingreifen. Dann hilft selbst die Familie nicht mehr. Eine Patentlösung gibt es sicher nicht.

Ricore: Obwohl es sich um Menschen am Rande der Gesellschaft handelt, verleihen Sie den Figuren eine Coolness. War das Ihre Absicht?

Huettner: Magersüchtige erkennt man oft gar nicht. Man denkt, sie sind mager, schwach und können die Türe nicht aufmachen. Das stimmt so gar nicht. Magersüchtige nehmen innerhalb kürzester Zeit ab und wieder zu. Sie sind hochintelligent, weil sie ihre Krankheit verstecken müssen. Auch Zwangsneurotiker muss man nicht sofort auf ersten Blick erkennen. Nur Tourette fällt natürlich auf, weil da laut geschimpft und unflätige Dinge gesagt werden. Es sind Menschen wie wir und können damit auch cool sein. Nur haben sie diesen kleinen Defekt, der dann und wann dazuschlägt und sie daran hindert, normaler zu werden.

Ricore: Kann die Coolness ihrer Protagonisten Vorurteile ausräumen?

Huettner: Das wäre schön.

Ricore: Haben Sie persönliche Erfahrung mit Tourette?

Huettner: Ich hatte den Vorteil, dass Florian David Fitz sehr lange an dem Drehbuch arbeitete und sehr viel Vorrecherche betrieb. Wir sahen uns viele DVDs an und unterhielten uns mit Ärzten, um herauszufinden, was wir uns als Filmschaffende erlauben können und was nicht. Je mehr ich mich mit Tourette beschäftigte, desto weniger wusste ich. Es gibt so viele Ausführungen und kein Schema. Man weiß nicht, was einen Kranken zum Tic verleitet. Es stimmt gar nicht, dass er jedesmal tict, wenn er in der Klemme steckt. Es kommt immer, wenn es nicht passt, ähnlich wie das Niesen.
Universum
Reine Formsache
Ricore: Sie wurden von einem Ärzteteam beraten.

Huettner: Wir haben im Vorfeld Tourette, Magersucht und Zwangskrankheiten, studiert. Uns hat interessiert, was realistisch ist, um es im Film übernehmen zu können. Was ist der Grund, dass Alexander z.B. mitfährt? Es gibt keinen. Zwangskranke würden niemals freiwillig ihr Zuhause verlassen. Also muss man da was erfinden, damit er mitfahren kann. Oder wie äußert sich die Magersucht von Marie? Sie einfach nicht essen zu lassen, ergibt keine Szene. Aber sie schirmt sich ab, lässt keinen an sich heran und ist manipulativ. Bei ihr ist immer eine Kälte dabei. Wenn sie jemanden anfasst, ist das für sie auch ein Spiel. Das waren wichtige Details, die ich dabei gelernt habe. Es ist die Unfähigkeit, sich selbst ins Leben zu stellen, im Hier und Jetzt zu leben.

Ricore: "vincent will meer" zelebriert die Jugend und den Regelbruch. Gegen Ende führt es die Figuren zurück in die Vernunft.

Huettner: Wenn ich wüsste, was Vernunft ist, würde ich sagen "Ja, stimmt". Ich würde es nicht Vernunft nennen. Vincent ist naiv und fragt sich, warum Marie nicht einfach isst. Blöder kann man einer Magersüchtigen nicht begegnen. Am Schluss erkennt er, dass er sie nicht retten kann. Vincents Vater begreift, dass er seinem Sohn nicht helfen kann. Er ist ja nicht nur das Arschloch. Er hat sich all die Jahre nicht ausreichend um Vincent gekümmert und trägt diesen Vaterschmerz mit sich. Irgendwann kommt der raus. Das sind die Schritte, die die Figuren vollziehen.

Ricore: Sie sprechen Vincents Vater an. Er macht auch eine markante Veränderung durch und wird auf seiner Reise unfreiwillig von Dr. Rose therapiert.

Huettner: Ja, ein wenig. Er wird mit einer anderen Haltung konfrontiert und merkt, dass man die Dinge auch anders sehen kann..

Ricore: Er ist schrecklich verbissen und wird gegen Ende weich und liebevoll.

Huettner: Alle sind verbissen. Dr. Rose ist verbissen, weil sie ihren Therapieansatz gefährdet sieht. Alexander sperrt verbissen alles Neue aus. Marie verfolgt nur das Ziel, zu sterben. Vincent verfolgt die absurde Idee, die Asche seiner Mutter nach Italien zu bringen. Alle haben ganz komische Ziele. Wenn es eine Message gibt, dann die, trotz der persönlichen Defizite, die Dinge auch mal stehen zu lassen und nicht verkrampft zu versuchen, sie zu tarnen. So sind wir eben.
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Karoline Herfurth am Set von "vincent will meer"
Ricore: Denken Sie während dem Dreh an das Publikum?

Huettner: Ja, schon. Ich versuche es auf jeden Fall.

Ricore: Welchen Stellenwert nimmt dabei das Drehbuch ein, welchen Sie persönlich?

Huettner: Ich finde, das ist eine Mischung. Das ergibt sich während dem Dreh. Ich arbeite sehr intensiv am Drehbuch, doch irgendwann muss ich es ja umsetzen. Da bedarf es Bilder, Zeit, Bewegung. Da kommt dann auch das Publikum ins Spiel. In meinem Kopf gibt es bestimmte Regeln, sonst macht es keinen Sinn.

Ricore: Sehen Sie durch die Augen des potenziellen Zusehers?

Huettner: Natürlich. Das versuche ich immer.

Ricore: Wie gehen Sie da vor?

Huettner: Das mache ich während dem Dreh und dann sehr stark im Schnitt, also in der Nachbearbeitung. Mit dem Rohschnitt gehe ich ganz konsequent in Testvorführungen. Dann merkt man sehr schnell, was die Leute langweilt oder was sie schon längst verstanden haben.

Ricore: Sie führen dann auch Diskussionen?

Huettner: Ja, klar. Es ist mir wichtig, das zu begreifen, was mir die Leute da zurückspielen. Der Anfang des Films war früher viel länger. Wir konnten ihn dann kürzen und schneller auf die Geschichte kommen, weil wir gemerkt haben, dass das Publikum ohne Probleme mitkommt. Auf diesen Dialog zwischen dem Zuseher, dem Film und mir bin ich sehr erpicht. Sonst hat man den Film nicht mehr im Griff, weil man schon tief in den Szenen hängt.

Ricore: Was lässt Ralf Huettner morgens aus dem Bett "springen"?

Huettner: Die Kinder in den Kindergarten bringen. Nein, das ist immer unterschiedlich. Ich liebe es, Filme zu inszenieren. Das ist wie ein großes Spiel, in dem man sich immer den nächsten Schritt ausdenkt. Am Set kommen die Leute zu mir und fragen, wann und wie das Auto explodieren soll (lacht). Das ist sehr kindisch, schön, blöd und lustig. Das macht Spaß.

Ricore: Steht schon das nächste Projekt an?

Huettner: Wenn ich das wüsste - aber vielleicht gibt es einen vierten Teil von "Die Musterknaben".

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 17. April 2010
Zum Thema
Vincent (Florian David Fitz) leidet am Tourette-Syndrom. Seine Mutter ist kürzlich verstorben. Sein Vater (Heino Ferch) konzentriert sich auf seine Karriere. Er ist es, der Vincent in eine Klinik einweist. Vincent freundet sich mit Marie (Karoline Herfurth) an. Die beiden schmieden einen Plan. Kurz darauf befinden sie sich im Fluchtauto gen Süden - zu dritt. "vincent will meer" ist Florian David Fitz ' Drehbuchdebüt. Ihm gelingt in Kombination mit Regisseur Ralf Huettner ein beschwingtes,..
2024