Nina Klofac/Ricore Text
Regisseur Jaco van Dormael
"Ich habe so viele Fragen"
Interview: Jaco van Dormael weiß es nicht
Lange mussten wir auf sein neues Werk warten. Nach "Toto der Held" (1991) und "Am achten Tag" (1996) dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis Jaco van Dormael seinen dritten Spielfilm realisierte. Nach dem Erfolg seiner ersten beiden Projekte, sind viele auf "Mr. Nobody" neugierig. Darin schickt er den Zuschauer auf eine ungewöhnliche Reise in drei Parallelwelten, die von der Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen, geprägt sind. Van Dormael kennt das Gefühl aus eigener Erfahrung. Er spricht mit uns auch über das Mysterium der Liebe und die Komplexität des Lebens.
erschienen am 9. 07. 2010
Concorde Filmverleih
Mr. Nobody
Ricore: Lief "Mr. Nobody" in Belgien in den Kinos?



Jaco van Dormael:
Ja und es war ein ziemlicher Erfolg.

Ricore: Ihr Film ist mit 33 Millionen Euro auch der teuerste belgische Film aller Zeiten. Hat Sie das unter Druck gesetzt?

Van Dormael: Als ich den Film machte, nicht. Bis zur Fertigstellung habe ich keinen Druck verspürt. Es hat so viel Spaß gemacht, das Projekt zu schreiben und zu entwickeln, es war wie eine Reise mit Freunden. Wir haben uns die Freiheit genommen, etwas Anderes zu machen, etwas das von der klassischen Erzählweise abweicht.

Ricore: Sie haben 13 Jahre gebraucht...

Van Dormael: Ja, das Schreiben hat sehr lange gedauert, aber es hat sehr viel Spaß gemacht. Es ist nicht so, dass ich absichtlich so lange gebraucht habe. Vielmehr wird eine Sache erst nach sechs oder sieben Jahren richtig gut.

Ricore: Inwiefern hat die Geschichte damit zu tun?

Van Dormael: Da ist schon eine Verbindung, schließlich weite ich die Geschehnisse aus. Es ist nicht so, dass der Film gegen Ende immer enger wird und auf eine Sache hinausläuft. Vielmehr weite ich die Geschichte, so wie ein Baum mit vielen, vielen Ästen.

Ricore: Wie meinen Sie das?

Van Dormael: Bei den Griechen war es schon so, dass alle Geschichten den Fokus auf das Ende gerichtet haben. Es geht immer um Zusammenhänge und kausale Erklärungen. Alles hängt voneinander ab. Am Ende hat dann alles eine Bedeutung. Meine Erfahrung vom Leben ist allerdings anders.
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Jared Leto in einer Szene aus "Mr. Nobody"
Ricore: Nämlich?

Van Dormael: Dass die schönsten Dinge im Leben nicht unbedingt die Notwendigsten sind. Die meiste Zeit erkenne ich keine Zusammenhänge. Auch am Ende wird nicht erklärt, warum Dinge passiert sind. Dafür ist alles zu komplex. Deshalb glaube ich auch, dass die Struktur vom Leben in einer Art Baumdiagramm mit vielen Ästen zu denken ist. Alles weitet sich in verschiedene Richtungen.

Ricore: Ist der Film also ein Portrait ihres Lebens?

Van Dormael: Eigentlich nein - in gewisser Weise doch. Die Liebesgeschichten unterscheiden sich von allem, was ich kenne. Allerdings bin ich Frankfurt aufgewachsen bis ich sieben Jahre alt war. Dann sind meine Eltern mit mir nach Belgien gezogen. Mit sieben Jahren schreibt man keine Briefe oder ruft Freunde an, nach einigen Jahren, mit zwölf oder 15 Jahren lebte noch immer ein Teil von mir in Frankfurt. Und ich lebte in Belgien.

Ricore: Haben Sie Frankfurt vermisst?

Van Dormael: Ja, natürlich. Es war schrecklich, als ich in Belgien ankam. Die Schule geht dort bis um vier Uhr nachmittags (lacht). Ein Teil von mir hat aber nun einmal in Belgien gelebt. Das kennt man doch. Wenn sich etwas ändert, jemand uns verlässt und so weiter, dann stellt man sich immer die Frage, was passiert wäre, wenn ich noch immer in Deutschland leben würde.

Ricore: Fragen Sie sich oft, was geschehen wäre, wenn...

Van Dormael: Ja, ich habe viele Fragen, aber leider keine Antworten (lacht).

Ricore: Was war die komplexeste Frage, die Sie sich je gestellt haben?

Van Dormael: Die komplexesten Fragen sind meist die einfachsten, die eines Kindes. warum sind wir hier? Warum ist das Leben, so wie es ist? Warum bin ich ich und nicht wer anders?
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Jaco van Dormael am Set von "Mr. Nobody"
Ricore: Wie finden Sie Antwort darauf?

Van Dormael: Ich habe darauf keine Antwort. Ich finde, es ist gut, da zu sein, das ist eigentlich die Antwort. (lacht)

Ricore: Das ist eine sehr positive Lebenseinstellung.

Van Dormael: Ja, total. Das versuche ich im Film zu zeigen. Es werden viele Fragen aufgeworfen, aber keine Antworten geliefert. Außer, das es in Ordnung ist, einfach da zu sein. Jedes Leben ist lebenswert, all die Möglichkeiten, die man hat, sind interessant. Auch dann, wenn man nicht alle Möglichkeiten leben kann.

Ricore: Liegt in dieser Lebensbejahung auch die Botschaft ihres Films?

Van Dormael: Es ist eher eine Erfahrung, die man aufnehmen kann. Unser Leben ist eines, der Charakter im Film kann mehrere entdecken. Er vergleicht sie unentwegt, stellt dann aber fest, dass ein Vergleich nicht möglich ist, weil doch alles anders ist. Es geht um Liebe die einfach ist, um Liebe, die eher brutal oder eher schwierig ist. Aber es gibt die Liebe in allen diesen Leben. Als alter Mann sagt er im Film, er konnte nie eine Entscheidung treffen, weil er nicht wusste, was passieren würde. Aber auch in dem Moment, wo er weiß, was geschehen wird, ist er unfähig sich zu entscheiden. Ich glaube es hat etwas mit Freiheit zu tun, mit dem einen Leben, das man hat, zufrieden zu sein. Es ist nicht nur das Leben, sondern das Leben ist alles.

Ricore: Warum richten Sie den Fokus auf die Liebe?

Van Dormael: Weil Liebe eine der mysteriösesten Dinge überhaupt ist. In meinem, wie auch in jedem anderen Leben, hat es etwas mysteriöses, weil es außerhalb unserer Kontrolle liegt. Es ist die Frage danach, warum wir uns für etwas entscheiden, ohne zu wissen, was danach geschieht. Aus welchem Grund wir eine Entscheidung treffen. Wenn ich verliebt bin, weiß ich nicht warum, es ist einfach nur ein großartiges Gefühl. Die größte Faszination des Lebens ist das Mystische. Bei meiner Arbeit ist es das Gleiche. Der interessanteste Teil ist immer der, bei dem ich die Kontrolle verliere.

Ricore: Was passiert, wenn Sie die Kontrolle verlieren?

Van Dormael: Nun, selbst wenn ich etwas sehr sorgfältig vorbereite, etwa schreibe oder mir die Schauspieler vorstelle, kann ich nicht davon ausgehen, dass es tatsächlich so eintritt. Ich kann nur auf den Moment warten, in dem ich alles toll finde. Das ist dann der Moment, in dem ich die Kontrolle verliere. Ich weiß dann oft nicht, warum ich es toll finde, in meiner subjektiven Empfindung ist es aber so. Es ist wie mit der Liebe, da findet man auch keine Antwort auf das Warum.
Nina Klofac/Ricore Text
Regisseur Jaco van Dormael
Ricore: Muss man sich für die Liebe entscheiden?

Van Dormael: Die einzige Entscheidung der es bedarf, ist die Kontrolle aufzugeben. die einzige Kontrolle die Liebe braucht, ist die Aufgabe jeglicher Kontrolle.

Ricore: Was ist speziell an Jared Leto?

Van Dormael: Er ist ein sehr wandlungsfähiger Darsteller. Ich habe ihn in früheren Filmen gesehen und ihn teilweise nicht erkannt. In "Requiem for a Dream" und "American Psycho" oder "Panic Room" sah er immer anders aus. Ich glaube er mag es, sich zu wandeln. Die Herausforderung bestand darin, neun verschiedene Nemos zu kreieren und sie so unterschiedlich wie möglich zu machen. Er machte das großartig, vor allem als alter Mann. Dafür schrie er sich morgens zwischen vier und fünf immer die Kehle aus dem Leib, damit seine Stimme kratzig wird.

Ricore: Sind Sie auch wandlungsfähig?

Van Dormael: Ja, ich glaube, wir sind alle Täuscher. Ich verhalt mich gerade wie ein Filmemacher, sie wie ein Journalist. Aber unsere Realitäten sind viel komplexer. Für uns ist es aber wichtig, sich irgendwelcher Vorstellungen entsprechend zu verhalten. Jetzt gerade denke ich, ich sei so oder so, jemand anders beurteilt es aber vielleicht ganz anders. Vielleicht hat jeder tausende Persönlichkeiten. Jeder versucht sich durch das, was er vorgibt zu sein, sich selbst gegenüber abzusichern.

Ricore: Warum fällt es ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen?

Van Dormael: Mein Job ist da gar nicht so passend, denn als Filmemacher muss ich alle zehn Sekunden eine Entscheidung treffen (lacht). Entscheidungen sind oft zu komplex, um sie unter Kontrolle des Gehirns zu setzen. Das ist bei meiner Arbeit das gleiche. Ich bereite etwas vor, schreibe den Text, spreche mit Geistern. Die Geister sprechen sogar miteinander. Wenn die Schauspieler kommen, werden die Geister zu Fleisch und Knochen, werden real.

Ricore: Und was passiert dann?

Van Dormael: Dann kann ich nur noch reagieren. Genau da verliere ich die Kontrolle.
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Szene aus: Mr. Nobody
Ricore: Gibt es eine Sache in Ihrem Leben, die Sie bereuen?

Van Dormael: Ich bereue keine Sache, die ich getan habe. Höchstens, das ich manches nicht getan habe, was ich hätte tun können. Die einzige Sache die ich bereue ist, dass das Leben so schnell vorbeigeht. Aber das liegt nicht an mir, eines jeden Leben geht so schnell vorüber.

Ricore: Sie kennen also das Gefühl, nicht genug gelebt zu haben?

Van Dormael: Natürlich. Man hat Kinder und alles ist super. Plötzlich sind sie 18 und gehen weg. Es ging alles sehr schnell. Das ist komisch. Ich fühle mich wie 20, wenn ich aber in den Spiegel sehe, habe ich den Beweis, dass ich definitiv keine 20 bin. Ich glaube die gefühlte Zeit und jene in der Realität sind zwei unterschiedliche Zeitformen.

Ricore: Was brauchen Sie zum Leben?

Van Dormael: Das Gefühl am Leben zu sein, ist das Allerwichtigste. Es geht darum, in der Gegenwart zu sein und nicht in der Vergangenheit oder Zukunft. Gerade ist es ein wenig komisch, weil meine beiden Töchter ausgezogen sind und man plötzlich nicht mehr so viel Zeit mit ihnen verbringen kann.

Ricore: Wie werden sie ihre Zeit stattdessen verbringen?

Van Dormael: Wahrscheinlich werde ich mehr Filme machen. Am Leben zu sein und Filme zu machen, das sind meine zwei Lieblingsbeschäftigungen.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 9. Juli 2010
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2024