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Sophie Scholl - Die letzten Tage, Marc Rothemund
Marc Rothemund über Reales und Fiktives
Interview: Silberner Bär für Kammerspiel
Am 22. Februar jährt sich der Todestag der Geschwister Scholl. Sie haben mit ihrer Flugblattaktion an der Münchner Universität eines der symbolträchtigsten Beispiele für gewaltlosen Widerstand gegen das NS-Regime geboten. Nach der Hinrichtung wurde die Schrift gegen Hitlers Regime von britischen Bombern über ganz Deutschland abgeworfen. Marc Rothemund schuf mit "Sophie Scholl - Die letzten Tage" ein einfühlsames Zeitportrait, das neu aufgetauchte Protokolle einbezieht und viele offene Fragen klärt. Wir trafen den 37-jährigen Filmemacher auf der Berlinale.
erschienen am 23. 02. 2005
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Kurz vor der Hinrichtung: Widerstandskämpferin Sophie Scholl (Julia Jentsch)
Ricore: Herr Rothemund, Nach Oliver Hirschbiegels "Der Untergang" und "Napola" von Dennis Gansel sind Sie der dritte deutsche Regisseur der Nachkriegsgeneration, die sich in einer Welle von Filmen erneut mit der NS-Thematik auseinandersetzt. Was genau qualifiziert Ihre Generation?

Marc Rothemund: Wir können mit einer gewissen Distanz zu Werke gehen, für uns stellt sich die Schuldfrage nicht mehr. Natürlich bin ich betroffen über die Opfer - nur persönliche Verantwortung empfinde ich nicht. Ich sehe als Filmemacher meiner Generation eher die Pflicht, das Andenken an die Opfer von damals hochzuhalten. Plötzlich wird aus Betroffenheit die Freude, dass es überhaupt solche Menschen wie Sophie und Hans Scholl gab.

Ricore: Dr. Michael Verhoeven hat die Thematik bereits 1981 verfilmt. Was gab den Auslöser für eine Neuverfilmung?

Rothemund: Unser Film setzt eigentlich da an, wo Michael Verhoeven damals ausgeblendet hat. Ich stieß auf bislang unbekannte Gesprächsprotokolle, mit denen sich die damaligen Verhöre rekonstruieren ließen. Ich stellte Nachforschungen an und bemerkte, dass wichtige Originalschauplätze wie Universität oder auch das Wohnhaus der Geschwister Scholl sich seit damals nicht wirklich verändert hatten. Die Struktur ergab sich daraufhin von selbst: Ich wollte vor der Verhaftung ansetzen, um dem Zuschauer durch den Tatendrang, die Euphorie und Lebensfreude der Geschwister Scholl zu zeigen, warum sie später so überzeugt Widerstand leisteten. Der zweite Block besteht aus den originalgetreu nachgestellten Vernehmungen, dem Schauprozess und der Hinrichtung auf dem Schafott.

Ricore: Für "Sophie Scholl" wählten Sie die bislang wenig bekannte Julia Jentsch, den verhörenden Gestapo-Beamten Robert Mohr besetzten Sie mit Alexander Held, der mit seinen kleinen Auftritten in "Schindlers Liste", "Der Untergang" und "Napola" auf NS-Rollen abonniert zu sein scheint. Wie kam diese Wahl zustande?

Rothemund: Mich faszinierte, dass beide gute Filme gedreht hatten, aber eigentlich nicht wirklich bekannt waren. Sie gingen mit einem richtigen Kämpferherz zur Sache, wollten zeigen, was sie draufhaben. Das imponierte mir unheimlich. Außerdem sieht Alexander Held dem Gestapobeamten Mohr zum Verwechseln ähnlich. Denn das war eine meiner Bedingungen: Die Schauspieler sollten ihren realen Vorbildern ähnlich sehen. Die Energie der Wahrhaftigkeit liegt über dem ganzen Projekt.

Ricore: Warum blieben die Verhörprotokolle so lange unentdeckt?

Rothemund: Sie wurden damals von München nach Berlin geschickt, damit sich der vorsitzende Richter Dr. Robert Freisler auf den bevorstehenden Schauprozess vorbereiten konnte. Das Urteil stand natürlich fest, aber er wollte sie erniedrigen, jede Möglichkeit nutzen, sie als Kriminelle darzustellen. Nach Kriegsende fielen die Dokumente an die Russen, die sie zuerst nach Moskau und dann nach Ostberlin an die SED schickten. Nach der Wende wanderten die Dokumente relativ unbemerkt ins Staatsarchiv der Bundesrepublik. Dort lagerten sie bereits vierzehn Jahren, als ich zum ersten Mal davon hörte.
Kennt kein Erbarmen: Richter Roland Freisler (André Hennicke)
Ricore: Wie genau konnte der Wortlaut nachkonstruiert werden?

Rothemund: Die meisten Protokolle waren nach Frage und Antwort gegliedert, nur einige wenige wurden zusammengefasst. Die Protokolle von Sophie umfassten ca. 60 Seiten. Für mich ergaben sich vier große Vernehmungsblöcke. Erstens: Unschuld. Hier leugnet sie fünf Stunden lang so vehement, dass sogar der Verhör-Profi ihr Glauben schenkt. Zweitens: Geständnis. Hans und Sophie müssen wegen eines eindeutigen Indizes die Tat gestehen, um nicht weitere Verbündete in Gefahr zu bringen. Drittens: Mittäter. Die Gestapo weiß, dass weitere Personen beteiligt waren. Die Suche nach den Verdächtigen beginnt, doch die Geschwister bleiben standhaft. Viertens: Abschließend folgt eine Weltanschauungsdiskussion auf höchstem Niveau über die Begriffe Volk, Freiheit und Ehre, die den Gestapo-Offizier zum Nachdenken bewegt. Er baut Sophie eine goldene Brücke, doch sie schlägt die letzte Hoffnung auf Rettung aus. Was danach kommt, ist bekannt.

Ricore: Wo genau spielen Sie mit der Fiktion?

Rothemund: In den Momenten, in denen Sophie Scholl alleine ist. Wie geht sie damit um, wenn sie nur noch eine halbe Stunde hat, um Abschiedsbriefe zu schreiben? Wie schwach wird sie, wenn sie sich unbeachtet fühlt? All das konnten wir nur erahnen, zogen aber eine ganze Reihe von Zeitzeugen zu Rate. Unter anderem Sophie Scholls jüngere Schwester und der Sohn des Gestapo-Beamten, der uns stundenlang über seinen Vater erzählte. All diese Leute haben mir bestätigt, dass wir den Kern der damaligen Ereignisse getroffen haben. Bis heute vergeht kein Tag, an dem nicht von Naziterror die Rede ist. Wie kann es angehen, dass in Dresden 7.000 Nazis gegen den englischen Luftangriff demonstrieren dürfen? Der Film ist wichtiger denn je.

Ricore: Wie haben Sie beim Dreh die Intensität erzeugt, die damals bei den Verhören spürbar gewesen sein muss?

Rothemund: Wir haben achtzehn Stunden täglich gedreht, sechs Tage die Woche. Oft filmte ich ganze Gesprächspassagen am Stück, unsere Schauspieler mussten bis zu fünfzehn Seiten Text am Stück auswendig lernen. Durch Konstanthalten dieser Atmosphäre hatte irgendwann jeder seine Rolle verinnerlicht und sprach seinen Text ganz im natürlichen Redefluss.

Ricore: Gab es bedrückende Momente, die Ihnen in Erinnerung bleiben werden?

Rothemund: Dieses Spiel um Leben und Tod so geballt mitzuerleben - das geht natürlich bisweilen an die Substanz. Bei der Hinrichtungsszene verließen sogar starke Beleuchter den Raum. Wir hatten eine Originalguillotine aus dem Gestapo-Hauptquartier in Wien, mit der 1.100 Leute geköpft wurden. Solche Bilder prägen sich natürlich ein. Aber es war die Mühe wert. Wir haben keinen politischen Film gemacht, sondern kämpfen mit Emotionalität für Menschenwürde und Gerechtigkeit. Wenn der Film nur ein paar Leute zum Nachdenken anregt, ist schon viel gewonnen. Dann habe ich das erreicht, was ich ursprünglich vorhatte: Die Idee der beiden Geschwister am Leben zu halten.
erschienen am 23. Februar 2005
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