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Jeanette Hain auf der "Albert Schweitzer"-Premiere
Aus Zeit und Welt gekippt
Interview: Jeanette Hain verliebt in Estland
Möglicherweise der Zufall bringt Jeanette Hain vor statt hinter die Kamera, wie sie es ursprünglich geplant hat. Denn der Zufall führt die Regie-Studentin 1996 mit Sherry Hormann zusammen, die die damals 27-Jährige für die Titelrolle in "Die Cellistin" besetzt. Es folgen weitere Auftritte in Fernsehen und Kino, unter anderem in "Die Frau des Architekten" und "Der Vorleser". In "Poll" kehrt Hain zu ihren Ursprüngen zurück und verkörpert wieder eine Cellistin. Im Interview mit Filmreporter.de schwärmt die Schauspielerin über die Dreharbeiten in Estland, einem Land, das "aus der Zeit und der Welt gekippt ist".
erschienen am 1. 02. 2011
Piffl Medien
Poll
Ricore: In "Poll" sprechen Sie deutsch-baltisch. Haben Sie die Sprache extra lernen müssen?

Jeanette Hain: Wir hatten eine Expertin zurate gezogen, die das noch privat spricht. Durch sie habe ich einen raschen Zugang zur Sprache bekommen. Ich mag das rollende 'R', das ich auch am Italienischen toll finde. Als ich sie kennenlernte, habe ich richtig Lust auf diese Sprache bekommen. Wir haben von ihr ein Märchen und verschiedene andere deutsch-baltische Sprachproben bekommen, die wir uns anhörten. Irgendwann eignet man sich die Sprache an. Außerdem gab es am Drehort einige Deutschbalten, von denen wir uns etwas abhören konnten. Die Sprache hat mir so große Freude bereitet, dass ich sie teilweise auch im Privaten gesprochen habe.

Ricore: Wie würden Sie Ihre Rolle charakterisieren?

Hain: Mila ist für mich eine äußerst zerrissene Frau. Seither ist sie dabei, sich wieder zusammenzuraffen. Sie ist eine Figur mit vielen Facetten. Sie ist eine Frau, die immer auf der Suche ist. Sie hat einen großen Hunger nach dem Leben, das sie unter anderem durch die Liebe zu Männern, durch Musik, aber auch durch ihre Kinder zu stillen versucht. Sie will Ruhe finden, und wenn sie sich am Ende mit ihrem Cello in ihrem Haus zurückgezogen hat, dann ist sie endlich angekommen, und zwar alleine, ohne Geliebten, ohne Ehemann und ohne Kinder, ganz auf sich gestellt.
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Jeanette Hain und Edgar Selge am Set von "Poll"
Ricore: War es einfach, sich in diese Figur hineinzuversetzen?

Hain: Im Vorfeld der Produktion hatte ich genügend Zeit, mich in die Natur zu versenken. Dadurch habe ich eine große Nähe zu der Figur aufbauen können. Hilfreich war auch das gesamte Arbeitsumfeld mit den vielen Kollegen. Wir alle hatten genügend Zeit, um in die jeweiligen Szenen richtig einzutauchen. Manchmal ist die Figur auch während des Spielens aufgeplatzt. Wie eine Frucht, die wochenlang reifte, um in einem bestimmten Moment aufzuplatzen.

Ricore: Wenn man so eine schwierige Rolle zu spielen hat, ist es ein Vorteil, das für einen Kinofilm zu tun, weil man hier mehr Drehzeit als für eine TV-Produktion hat?

Hain: Ja, die Zeit ist bestimmt wichtig. Aber selbst im Kino ist nicht immer die Zeit da, die man bräuchte. Deswegen ist die Großzügigkeit seitens der Produktion so wichtig, sich einfach die Zeit zu nehmen, um eine Geschichte zu erzählen. Das ist ein Riesenglück, das in der Filmbranche selten eintrifft. Man braucht einfach Zeit, um sich dem Projekt hinzugeben, sich den Figuren zu widmen. Wenn man merkt, dass es nicht mehr weitergeht, sollte man es sich leisten dürfen, eine Pause zu machen und danach neu anzusetzen. Meiner Meinung nach ist das Geschichtenerzählen das Schönste, das es gibt. Und wenn man die Zeit dafür geschenkt bekommt, dann ist das eine Chance, die man nutzen sollte.

Ricore: Hatten Sie während der Dreharbeiten die Möglichkeit, von der Geschichte abzuschalten?

Hain: Ja, ich hatte die ganze Zeit über meine Tochter bei mir. Außerdem hatte ich viele Bücher mitgenommen, die ich während des Drehs lesen wollte. Aber dann merkte ich, dass ich das eigentlich gar nicht wollte. Ich wollte in Estland ja keinen Strandurlaub machen. Ich hatte ein Cello dabei und habe täglich mehrere Stunden gespielt, weil ich die Beziehung zu dem Instrument finden wollte. Mein Spiel war selbst nach den langen Übungen nicht sendefähig, aber mir war es wichtig, ein Gefühl für das Cello zu entwickeln. Generell habe ich mich während der Dreharbeiten oft zurückgezogen, indem ich mir eine Wohnung weit abseits der Dreharbeiten suchte. In dieser Abgeschiedenheit lernte ich das Land kennen und lieben. Ich wollte gar nicht mehr weg. Das Versenken in die Stille, die Kraft und Poesie Estlands war einfach toll. Aber trotz allem, einen richtigen Abstand von den Arbeiten und der Rolle gab es nicht. Die Mila war schon sehr tief in mir drin.
Gudrun Schmiesing/Ricore Text
Jeanette Hain
Ricore: Es klingt fast so, als hätten sie Ihr altes Leben hinter sich gelassen und ein neues begonnen.

Hain: Nein, mein altes Leben hatte ich nicht hinter mir gelassen. Ich glaube nur, dass jeder Mensch in sich verborgene Charaktereigenschaften hat, die bei bestimmten Gelegenheiten an die Oberfläche gelangen. Insofern konnte sich in Estland etwas entfalten, das auch mit der Mila zu tun hatte. Ansonsten merkte ich einfach, wie schön die Ruhe ist. Zwar ist einem das alte Leben nicht gleichgültig, aber es reißt doch in gewisser Weise ein Band, das einen an dieses Leben band. Man bekommt eine andere Blickweise auf das Leben. In meinen Postkarten schrieb ich oft, dass ich in einem Land bin, das aus der Zeit und der Welt gekippt ist. Das meinte ich in einem positiven Sinne. Die Zeit steht in Estland still und das habe ich als etwas sehr Schönes empfunden.

Ricore: Hatten Sie Angst, wieder nach Deutschland zurückzukehren, weil Sie hier diese Ruhe nicht mehr vorfinden könnten?

Hain: Nein, Angst hatte ich nicht. Aber am Bergfest hatte ich zum ersten Mal Bilder des Films gesehen und da wurde mir schmerzlich bewusst, dass es 'nur' ein Film ist. Während der Dreharbeiten war das einem nicht bewusst. Denn die Augenblicke und die Präsenz des Gesehenen und Empfindens waren schon sehr intensiv. Die Erkenntnis, dass das alles Film ist, war schon schmerzlich. Trotzdem: die Erfahrungen, die ich in Estland gemacht habe, sind ein Schatz, den ich lange mit mir tragen werde.

Ricore: Konnten Sie in dieser Abgeschiedenheit schon an die nächsten Projekte in Deutschland denken?

Hain: Wenn man in Dreharbeiten steckt, kann man sich nur schwer vorstellen, was danach kommt. Aber im Hinterkopf hat man schon den einen oder anderen Gedanken an das nächste oder die nächsten Projekte. Es war jetzt nicht so, dass man komplett abgeschottet war.

Ricore: Wenn man Sie über die Schönheit dieser abgeschiedenen Welt sprechen hört, denkt man unwillkürlich daran, dass auch das Film-Projekt den Ursprüngen sehr nahekommt.

Hain: Ja, in der Tat. In unserer Zeit, in der schon im Vorfeld über Quoten und Zuschauerzahlen gesprochen wird, stand die Arbeit bei "Poll" unter dem Zeichen einer überbordenden Fantasie wie bei Federico Fellini. Es war eine schöne Erfahrung, sich einfach Zeit nehmen zu dürfen und nicht über das Müssen reden zu müssen. Wir konnten mit einer großen Freiheit, eine Geschichte erzählen, um erst danach das Ergebnis in Augenschein nehmen und es in die Welt hinausschicken. Es war kein Zwang zur Anpassung und zum Hinbiegen vorhanden. Es ist schön, dass es diese Freiheit und Großzügigkeit heute noch gibt.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 1. Februar 2011
Zum Thema
Zunächst möchte Jeanette Hain Regisseurin werden. Ab 1993 studiert sie an der Die Cellistin" als Schauspielerin entdeckt wird. Von da an ist sie aus der deutschen Fernsehlandschaft nicht mehr wegzudenken. Auch das Kino erobert sie für sich. Sie ist in dem beim Filmfest von Monte Carlo prämierten "Die Frau des Architekten" und in "Der Vorleser" mit Kate Winslet und Ralph Fiennes zu sehen. Neben ihren Kinoarbeiten ist Hain auch im Theater tätig. 2007 wirkt sie im Oscar Wilde mit.
Poll (Kinofilm)
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2024