Pandora Film
Halt auf freier Strecke
Arbeiten und tanzen
Interview: Leben gegen den Tod: Andreas Dresen
Ob Sex mit 70 oder der Tod, Andreas Dresen traut sich in seinen Filmen an Themen, um die das Erzählkino einen großen Bogen macht. Er ist einer der Individualisten des deutschen Kinos. Alleine auf weiter Front fühlt er sich deshalb nicht. Im Gegenteil, gerade die Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen mache den gegenwärtigen deutschen Film so reizvoll. Anlässlich seines Dramas "Halt auf freier Strecke", in dem Dresen einen Familienvater in mittleren Jahren mit der Diagnose Krebs konfrontiert, haben wir uns mit dem 48-Jährigen unterhalten. Dresen spricht über Tod, Religion und Leben. Letzteres müsse gerade wegen der Begrenztheit des Daseins sinnvoll gelebt werden.
erschienen am 16. 11. 2011
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Halt auf freier Strecke
Ricore: "Halt auf freier Strecke" erlebte seine Uraufführung auf dem Filmfestival von Cannes. Hatten Sie damit gerechnet, dass selbst das abgebrühte Pressepublikum so emotional auf den Stoff reagiert?

Andreas Dresen: Ich persönlich bin jemand, der im Kino gerne lacht und weint. Mir ist nichts verhasster, als wenn mir ein Film gleichgültig ist. Insofern freute ich mich natürlich, dass die Leute so stark auf den Film reagierten. Das fand ich bemerkenswert, aber gerechnet habe ich damit nicht. Ich saß auch in der Pressevorführung und hatte überhaupt keine Emotionen. In solchen Momenten ist man so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass man sich innerlich auf nichts anderes einlässt. Aber grundsätzlich wünsche ich mir immer, dass meine Filme die Menschen berühren und wenn das eintritt, finde ich es wunderbar. Nach der Publikumsvorstellung in Cannes kam eine Frau auf mich zu, umarmte mich und lag bestimmt eine Minute lang schluchzend in meinen Armen. Dann sagte ich ihr, dass es mir leid tue, schließlich möchte ich niemanden unglücklich machen. Sie sagte, alles sei wunderbar und rannte weg. Das beschreibt ein bisschen die ambivalenten Gefühle, die der Film hervorruft. Man erlebt einerseits ein Gefühlstief, das viele Menschen andererseits auch als etwas sehr Schönes empfinden. Es hat etwas Befreiendes.

Ricore: Fragten Sie sich bei der Arbeit am Film nicht auch, wie weit Sie in der Darstellung des Themas gehen können, ohne die Würde des Menschen zu verletzen?

Dresen: Wir haben sehr lange für den Film recherchiert und sind dabei auf viele drastische Situationen gestoßen. Natürlich überlegt man schon im Vorfeld, wo die Schmerzgrenze liegt. Einerseits wollten wir nichts beschönigen, andererseits wollten wir dem Zuschauer eine Chance lassen. Insofern ist es durchaus ein Abwägen zwischen dem, was man zeigen kann und dem, was man am besten weglässt. Wenn ich auch noch die vollgeschissenen Windeln gezeigt hätte, dann wäre das nicht nur geschmacklos, es wäre auch ein ganz anderer Film geworden. Wir erzählen in "Halt auf freier Strecke" davon, wie die ganze Familie darum kämpft, ihre Würde zu behalten. Entscheidend war, dass der Film an einen Punkt gelangt, der für alle Beteiligten eine Erlösung ist. Den Tod selber zeigen wir nicht. Zwar arbeitet der Film die ganze Zeit darauf hin, doch zieht sich die Kamera im entscheidenden Moment zurück. Im Kino gibt es so viele Sterbeszenen, bei uns kommt der Moment selbst nicht in Großaufnahme vor. Eine Zeitlang ist man sogar völlig im Unklaren, ob Frank gestorben ist oder nicht. Das alles hat mit Distanz und Nähe zu tun. Wir mussten ein Maß finden, das es einem ermöglicht, die Geschichte zu erzählen, so dass auch der Zuschauer sie sich anschauen kann.
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Halt auf freier Strecke
Ricore: Bei all der Tragik hat der Film auch einige komische Stellen. Wird der Humor als dramaturgisches Element eingesetzt, als eine Art Gegengewicht zum Ernst? Oder ist er Teil Ihrer Weltanschauung im Sinne von: Der Tod gehört zum Leben dazu?

Dresen: Der Humor war überhaupt sehr wichtig - nicht nur im Film, sondern auch bei der Arbeit daran. Am Anfang waren wir alle unglaublich befangen. Erst im Laufe der Zeit haben wir uns davon befreien können. Merkwürdigerweise war es am Drehort umso gelöster, je düsterer die Geschichte wurde und je näher der Film dem Tod kam. Wir haben immer mehr die Situation angenommen. Ich denke, so ähnlich geht es vielen Betroffenen. Dass man eine düstere Phase im Leben durchläuft, heißt nicht, dass man permanent einem Leidensdruck ausgesetzt ist. Auch im Angesicht des Todes gibt es Momente, in denen man gelöster ist. Der Humor des Films resultiert also nicht nur aus dem dramaturgischen comic relief, er gehört realistischerweise zum Sterben dazu. Das Leben besteht nicht nur aus Düsternis, auch nicht im Angesicht des Todes. Das hat auch etwas Barmherziges.

Ricore: Wie wichtig war vor dem Hintergrund des Realismus-Anspruchs die Tatsache, dass Sie in bestimmten Szenen Laiendarsteller besetzt haben?

Dresen: Mir fällt es schwer, einen Schauspieler zu briefen, wie er zum Beispiel ein Arztgespräch mit solch einer dramatischen Diagnose zu führen hat. Das würde schnell zu lauter Klischees führen. Aus diesem Grund haben wir einen Arzt zur Rate gezogen, der diese Gespräche zwei, drei Mal in der Woche führen muss. Dr. Uwe Träger, der Chefneurochirurg vom Ernst-von-Bergman-Klinikum in Potsdam, habe ich erst am Tag vor den Dreharbeiten kennengelernt. Ich ging in sein Büro und fragte ihn, wie so eine Situation ungefähr abläuft. Als das Gespräch dann stattfand, war das für mich ein ungeheuerlicher Vorgang. Die eigentliche Dimension des Ganzen habe ich erst da begriffen, als wir die Szene gedreht haben. Die ganze Situation wurde plötzlich viel drastischer und existenzieller, als ich mir das jemals vorstellen konnte.
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Halt auf freier Strecke
Ricore: Hat der Arzt seine Aufgabe als Schauspieler zu Ihrer Zufriedenheit erledigt?

Dresen: Ja, ich fand ihn sehr stark. Er hat in seinem Beruf einen bemerkenswerten Weg zwischen Sachlichkeit und Empathie gefunden. Die Pausen während des Gesprächs hat er selbstständig eingebaut, ich hatte keinen Einfluss darauf. Als ich ihn hinterher nach dem Warum frage, sagte er, dass er den Menschen Zeit geben wolle, die Dinge zu begreifen. Als Arzt sagt er die ganze Wahrheit nur, sofern das nötig ist. Wenn die Menschen fragen, erfahren sie aber alles, was er weiß. Es ist eine schrittweise Annäherung an ein schwieriges Thema.

Ricore: Liefen die Dreharbeiten vor Ort im Büro des Arztes reibungslos?

Dresen: Wir drehten die Szene insgesamt drei Mal und in zwei der Takes klingelte plötzlich das Telefon - interessanterweise an ähnlichen Stellen. Das war nicht gesteuert und auch nicht beabsichtigt. Dem Arzt war das sichtbar unangenehm, aber er sagte, dass er den Pieper nicht ausschalten könne. Er sei der Chefneurochirurg und im Notfall müsse er sofort in den OP. Dass das Telefon gerade im Moment des Diagnosegesprächs klingelte, war also blanker Zufall. Wir ließen die Kamera einfach weiterlaufen. Da drängte plötzlich eine Realität in den Film hinein, die ich so wahrscheinlich nie hätte darstellen können. Auch die Homecare-Ärztin Petra Anwar hätte ich mir so nicht ausdenken können. Ich fand es ganz wunderbar, wie pragmatisch, hilfreich und offen sie mit ernsten Krankheiten und dem Thema Tod umgeht.

Ricore: Haben Sie bei der Recherche festgestellt, inwieweit bei den Betroffenen der Glaube im Umgang mit dem Tod eine Rolle spielt?

Dresen: Ich bin mir sicher, dass der Glaube für Menschen in schwierigen Situationen sehr hilfreich sein kann. Religiös verwurzelte Menschen können in Krisensituationen darin ein stützendes Geländer finden, das sie durch schwierige Phasen führt. Das kann hilfreich sein, muss es aber nicht. Wenn man überlegt, dass die christliche Religion auch mit dem Jüngsten Gericht arbeitet, ist die Vorstellung, nach dem Tod vor den Richter zu treten auch nicht unbedingt erheiternd. Die Idee, dass da jemand entscheidet, ob ich in den Himmel oder in die Hölle komme, finde ich abstrus. Da bieten andere Religionen sehr viel hilfreichere Lösungen an. Das Christentum kann manchmal etwas bedrückend wirken. Ich denke da zum Beispiel an die Architektur der Kirchen. Und ihr Hauptsymbol ist das Kreuz, eigentlich ein Folterinstrument. Trotzdem denke ich, dass der Glaube an ein Leben danach durchaus helfen kann. Ob man da zwingend das "Gebäude" einer Religion braucht, sei dahingestellt.
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Andreas Dresen auf dem Set von "Sommer vorm Balkon"
Ricore: Bietet "Halt auf freier Strecke" einen metaphysischen Trost an?

Dresen: Ja, in gewisser Weise taucht das Metaphysische im Film tatsächlich auf. Wenn Simone am Ende das Fenster öffnet, ist das ein metaphysischer Moment. Das ist eine Art von Religion, mit der ich mich durchaus anfreunden kann.

Ricore: Hat der Grusel des Todes vielleicht auch damit zu tun, dass die Menschen heute seltener mit dem Tod in Berührung kommen?

Dresen: Ja, damit bringen Sie es auf den Punkt. In dem Moment, wenn eine Gesellschaft Themen wie den Tod wegschiebt und institutionalisiert, kommt man damit weniger in Berührung. Dadurch bauen sich Ängste auf. Noch vor 100 Jahren gab es Großfamilien, wo mehrere Generationen unter einem Dach lebten. Wenn der Großvater oder die Großmutter gestorben ist, waren die Kinder immer dabei. Man konnte Abschied nehmen, den Toten anfassen. Dadurch dass die ganze Situation ein familiäres Korsett hatte, nahm das einem ein bisschen den Schauer von der Seele. Man begriff, dass der Tod ein ganz normaler Bestandteil des Lebens ist. In dem Moment, als wir anfingen, Pflegeheime, Palliativstationen usw. zu errichten, wurde der Tod immer irrealer. Wir können ihn uns nicht mehr vorstellen und unsere Fantasie malt ihn sich in den schwärzesten Farben aus. Ich möchte den Institutionen nicht ihre Existenzberechtigung absprechen. Dass es sie gibt, hat damit zu tun, dass die Familien durch den Leistungsdruck oder die heutige Schnelllebigkeit überfordert sind. Doch was von der Natur einst organisch angelegt wurde, wird im gesellschaftlichen Zusammenleben immer abstrakter. Dadurch bauen sich im Umgang mit Schmerz, Tod und Abschied große Ängste auf.

Ricore: Gab es die Überlegung, Sterbehilfe als Thema in den Film einzubauen?

Dresen: Ja, wir haben darüber gesprochen. Doch ich wollte das Thema am Ende nicht im Film haben, weil es ein riesengroßes Tor aufgemacht hätte und zu etwas geführt hätte, worüber man einen eigenen Film machen müsste. Uns ging es viel stärker darum zu zeigen, wie eine Familie mit dem Thema umgeht. Klar gibt es im Film Situationen, wo Sterbehilfe naheliegt und natürlich stießen wir auch bei der Recherche auf das Thema. Dabei ist uns nicht entgangen, dass das in manchen Familien durchaus praktiziert wird, wenn auch von einem Mantel des Schweigens umgeben. Letztendlich ist Euthanasie eine Mutfrage und hängt davon ab, wie sehr man sich im Vorfeld damit beschäftigt. Es ist zwar nicht legal, aber es steht einer Gesellschaft gut zu Gesicht, sich offen damit auseinanderzusetzen.
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Andreas Dresen auf dem Set von "Sommer vorm Balkon"
Ricore: Kann man Ihre Filme auch als Bewältigung eigener Ängste betrachten - sei es, dass es sich dabei um Todesängste oder der Angst vor Trennungen und Abschied handelt.

Dresen: Ich gewisser Weise ja. Ich mache Filme, weil mich Dinge persönlich interessieren. Es ist nicht so, dass ich durch die Gegend laufe und mir überlege, welches Tabu ich als nächstes breche (lacht). Im besten Fall kommen die Filme zu einem selbst. Bei "Halt auf freier Strecke" ist es so gewesen. Das Thema hat mich gefunden. Dadurch dass ich nun mittlerweile auf die 50 zugehe, kommen die Einschläge immer näher. Der Tod wird plötzlich zu einem Thema. In dem Moment, wenn man sich damit auseinandersetzt, gerät man in eine bestimmte Grundstimmung.

Ricore: Kann man die Beschäftigung mit solchen existenziellen Themen auch als eine Art Selbsttherapie bezeichnen?

Dresen: Es ist vielleicht ein gewünschter Nebeneffekt, aber als Selbsttherapie würde ich das nicht bezeichnen. Dazu ist eine Filmproduktion zu aufwendig. Man muss schon im Laufe der Vorarbeit das Gefühl kriegen, dass das Thema auch für andere Menschen interessant sein könnte.

Ricore: Betrachtet man nach der Konfrontation mit dem Tod das Leben mit anderen Augen?

Dresen: Ja, die Beschäftigung mit "Halt auf freier Strecke" hat mich verändert wie keine andere Produktion vorher. Niemals zuvor hat mich ein Film so sehr in eine persönliche Krise hineingetrieben wie dieser. Es waren schon sehr drastische Momente und Gefühle, denen ich ausgesetzt war. Mit einem Mal lässt man Dinge durch sich hindurch, die man sonst gerne von sich wegschiebt. Nun ist die theoretische Beschäftigung mit bestimmten Themen etwas anderes als die gelebte Erfahrung. Man weiß, wie es Elisabeth Kübler-Ross, die sich zeitlebens mit dem Tod beschäftigte, am Ende erging. Trotzdem: Wenn der Tod früher oder später auf mich zukommt, dann habe ich mich damit schon mal intensiv beschäftigt. Das Thema ist für mich ein normaleres geworden. Der schwarze Schleier ist weg.
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Andreas Dresen und Ursula Werner besprechen "Wolke neun"
Ricore: Findet sich diese Erkenntnis auch im Film?

Dresen: Ja, die Reise in die Finsternis führt am Ende zum Leben zurück. So endet der Film jedenfalls, wenn man an den drastischen Satz der Tochter denkt. Dieser Satz weist ganz klar zurück in die Welt. Die Täler sind dazu da, um den nächsten Berg zu beschreiten. So ist unser Leben gebaut, nur lassen wir die Krisen des Lebens viel zu selten an uns heran.

Ricore: Das heißt, jetzt haben Sie weniger Angst vor dem Tod?

Dresen: Ich weiß es nicht. Aber ich kann bestimmte Dinge mehr genießen. Der Film endet ja mit einem Lied des wunderbaren Gisbert zu Knyphausen. An einer Stelle heißt es dort: "Das Leben lebt, es ist ein wunderschöner Sommertag". Trotz all des Frustes, den wir tagtäglich mit uns schleppen, müssen wir uns bewusst werden, dass unsere Tage auf der Welt begrenzt sind. Das kann uns dabei helfen, eine Genussfähigkeit zu entwickeln. Man muss kein schlechtes Gewissen haben, es sich gutgehen zu lassen. Auch dafür sind wir auf der Welt. Wenn man die ganze Zeit nur arbeitet und Dingen hinterherrennt, wird man nicht glücklicher. Unter Umständen trifft einen der Tod früher, als man denkt. Für diesen Fall sollte man gewappnet sein.

Ricore: Würden Sie vor diesem Hintergrund Träume auf morgen verschieben?

Dresen: Ich denke, ich bin ein ganz genussfähiger Mensch (lacht).
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Wolfgang Kohlhaase und Andreas Dresen auf der Premiere von "Whisky mit Wodka"
Ricore: Ist bei Ihnen die Improvisation das adäquate Mittel, um der Unberechenbarkeit des Lebens Ausdruck zu verleihen?

Dresen: Die Improvisation beschreibt nur zum Teil, wie meine Arbeitsweise tatsächlich funktioniert. François Truffaut hat einmal gesagt, Improvisation ist, wenn man die Vorbereitung nicht merkt. So spontan meine Filme auch aussehen mögen, bereiten wir sie dennoch genau und langwierig vor. Wir wissen im Allgemeinen, wo die Reise ungefähr hingehen soll, aber den Weg kennen wir nicht. Wir lassen uns auf eine Konstellation ein, doch diese erfordert Vorabsprachen. Wenn sie erst einmal geschaffen ist, läuft sie realistisch ab und ich greife in den Vorgang nicht mehr ein. Bei der Arbeit mit professionellen Schauspielern unterbreiten diese mir bei laufender Kamera ein Angebot, aus dem ich einen Teil nehme und eine Szene daraus forme. Es sind Sätze und Situationen, die sich aus der Improvisation entwickeln, die wir dann handwerklich ausformen. Ich denke, wenn man nicht mit vorgefertigten Lösungen an den Drehort kommt, entstehen Momente, die man sich am Schreibtisch nicht hätte ausdenken können. Mir wäre zum Beispiel nicht eingefallen, dass ein Arzt bei einem Diagnosegespräch so lange schweigt. Auch auf das Telefongespräch wäre ich nicht gekommen. Wenn überhaupt, dann im polemischen Sinne. Man hat als Filmemacher häufig eine viel schematischere Vorstellung von der Welt, als sie sich plötzlich in der Improvisation darstellt.

Ricore: Milan Peschel sieht auf eine sehr realistische Weise krank aus. Haben Sie Maske und Make-up benutzt?

Dresen: Milan hat sehr viel an sich rangelassen. Nach den Dreharbeiten sagte er mir, man habe ihm mehrmals gesagt, er wäre während des Drehs ganz anders gewesen. Ich glaube nicht, dass Milan besonders gehungert hat, um möglichst authentisch zu wirken. Beim Catering hat er schon ordentlich zugelangt. Ich glaube, die psychologische Komponente hat wesentlichen Anteil für den authentischen Effekt. Wir haben weder mit dem Licht nachgeholfen, noch haben wir Masken benutzt. Allenfalls am Anfang des Krankheitsstadiums, als Milan die Haare ausfallen, haben wir mit geklebten Haaren nachgeholfen. Wenn Milan am Ende im Bett ganz schmal aussieht, dann liegt das an der Glatze und vielleicht an der Art, wie Milan mit der Situation als Schauspieler umgegangen ist, seine Art zu sprechen oder sich zu bewegen. Das sind Dinge, die wir recht ausführlich recherchiert haben.
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Sylvester Groth und Andreas Dresen auf der Premiere von "Whisky mit Wodka"
Ricore: Fühlen Sie sich mit ihrem veristischen Kino in der deutschen Kinolandschaft zwischen Komödien à la Til Schweiger und dem Arthouse-Kino um die Gruppe der Berliner Schule nicht manchmal auf einsamem Posten?

Dresen: Nein, gar nicht. Die spontane und realistische Herangehensweise an die Themen habe ich nicht für mich allein gepachtet. Es gibt viele junge Kollegen, die ähnlich oder vergleichbar arbeiten. Es muss ja nicht Regisseure geben, die genauso arbeiten wie ich. Es gibt genügend Leinwände, auf der verschiedene Handschriften Platz haben. Es wäre ja auch langweilig, wenn alle plötzlich eine Art von Film machen würden. Es muss schon eine Vielfalt geben. Das Schöne am Kino ist das große Spektrum. Ich schaue mir auch gerne verschiedene Filme an. Mal habe ich Lust auf einen Film von Woody Allen, dann schaue ich mir einen von Christian Petzold an. Nein, ich empfinde keine Einsamkeitsgefühle. Ganz im Gegenteil, ich freue mich darüber, dass sich im deutschen Kino in den letzten Jahren eine ganz große Bandbreite entwickelt hat. Es gibt Filme, die sehr erfolgreich sind, wie die von Til Schweiger und solche mit mehr Anspruch. Ich freue mich, wenn ein Film vier, fünf Millionen Zuschauer in die Kinos lockt. Das nützt letztendlich der gesamten Branche und damit indirekt auch mir oder Kollegen, die auf ähnliche Art zu arbeiten versuchen.

Ricore: Dass vier Millionen auch in anspruchsvolles individualistisches Kino reingehen, ist aber auch nicht zu verachten.

Dresen: Ja, natürlich wünsche ich mir, dass auch kompliziertere Filme erfolgreich sind. Aber man muss es ja nicht übertreiben mit den Erwartungen. Bei "Wolke Neun" war ich schon sehr glücklich, als er eine halbe Millionen Zuschauer hatte. Damit hatte ich nie gerechnet. Unsere optimistischste Prognose lag bei 150.000 Besuchern. Etwas anderes habe ich nicht erwartet. Dazu war der Film zu drastisch und in seiner Machart zu experimentell. Dass ihn sich trotzdem so viele Menschen angeschaut haben, freute mich umso mehr. Da merkte ich, dass es den mündigen Zuschauer doch noch gibt. Das lässt hoffen.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 16. November 2011
Zum Thema
Sie passen gut zusammen, Andreas Dresen und seine Filme. Auf den ersten Blick eher unscheinbar, erweisen sie sich dem genaueren Beobachter rasch als mutig, klug, zugleich bodenständig und fantasievoll, zudem von einem feinen Sinn für die Abgründe und Absurditäten des Alltäglichen durchzogen. Andreas Dresen ist ein Abenteurer - einer, der seine Schwächen und Ängste gut genug kennt, um sie immer wieder neu herauszufordern. Seit "Nachtgestalten" hat Dresen nicht nur das Publikum begeistert,..
Andreas Dresen zeigt in "Halt auf freier Strecke" die letzten Monaten eines Todkranken. Er zeichnet den allmählichen Verfall seines Protagonisten und fokussiert auf den aufopferungsvollen Kampf seiner Frau, ihm die letzten Tage so angenehm wie möglich zu machen. Für die Kinder des Paares ist die Situation die erste Begegnung mit dem Tod. Dresens preisgekröntes Drama ist weitgehend improvisiert und mit einigen Laiendarstellern besetzt. Das und die großartigen schauspielerischen Leistungen von..
2024