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Hauptdarstellerin Martina Gedeck auf der Deutschlandpremiere von "Die Wand" am 4. Oktober 2012 in München
'Ich brauche Ruhephasen'
Interview: Martina Gedeck findet zu sich selbst
Es ist die Rolle ihres Lebens: In Julian Pölslers "Die Wand" verkörpert Martina Gedeck auf eindringliche Weise eine Frau, die in einer abgelegenen Bergregion Österreichs von einer unsichtbaren Wand eingeschlossen wird. Anlässlich des Kinostarts der österreichisch-deutschen Produktion hat sich Filmreporter.de mit Martina Gedeck getroffen. Darin spricht die 51-Jährige über ihre Leseerfahrung der Romanvorlage und verrät, inwiefern sich durch die Rolle ihre Beziehung zur Natur verändert hat.
erschienen am 9. 10. 2012
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Die Wand
Ricore: Frau Gedeck, wann haben Sie Marlen Haushofers Romanvorlage "Die Wand" zum ersten Mal gelesen.

Martina Gedeck: Mit 20 Jahren.

Ricore: Wie hat sich ihre Wahrnehmung des Buchs seitdem verändert?

Gedeck: Beim ersten Lesen war mir noch vieles verborgen geblieben. Vieles habe ich nicht interpretieren können. Trotzdem war ich von dem Roman sehr fasziniert. Ich fand ihn sehr geheimnisvoll, unheimlich und dunkel. Die existentielle Bedrohung, die über einen Menschen hereinbricht, das Herausheben aus der vertrauten Wirklichkeit, empfand ich als fremd. Ich wusste damals nicht, was das Alleinsein mit einem Menschen machen kann, weil ich mit 20 noch nie allein war. Da war ich auch von existentiellen Krisen unbeleckt. Heute öffnet sich das alles für mich. Ich hatte das Gefühl, als würde die Person aus meinem Inneren sprechen. Es gibt keinen Satz im Roman, den ich nicht plausibel finde. Trotzdem lese ich ihn noch mit viel Angst behaftet. Die empfinde ich übrigens auch, wenn ich den Film sehe. Beim Spielen habe ich das nicht so erlebt, beim Anschauen schon.

Ricore: Welche Rolle spielt für Sie das Geschlecht in Roman und Film?

Gedeck: Es geht im Roman wie im Film um das Wesen und die Essenz. Alles was nicht Essenz ist, löst sich ab wie eine alte Haut. Dazu gehört auch die Frage des Geschlechts. Es wird irgendwann nicht mehr wichtig, ob es sich um eine Frau handelt oder um einen Mann. Sie verwandelt sich in etwas, was sich jenseits des Geschlechtlichen befindet. Am Anfang ist das noch nicht so. Da sieht man sie mit weiblichen Attributen ausgestattet. Sie trägt Schmuck und Nagellack, hat lange Haare, macht sich eine Gurkenmaske. Aber diese weiblichen Attribute verschwinden im Lauf des Films.

Ricore: Konnten Sie diesen Auflösungsprozess nachvollziehen?

Gedeck: Ja, das fand ich durchaus statthaft. Ich finde, wir befinden uns im Film nicht in einer materiellen Wirklichkeit, sondern in einer Art geistigem Zwischenreich oder einer realeren Wirklichkeit - eine Wirklichkeit, die nicht greifbar ist. Damit konnte ich mich sehr wohl identifizieren. Jeder Mensch hat viele Wesen in sich. Man kann den Mann durchaus auch mal anders sehen als einen Mann. Auch die Frau kann anders sein, als geschminkte Schönheit mit langen Haaren. Man sollte spielerischer miteinander und mit sich selbst umgehen.

Ricore: Angesichts des Films spürt man schnell eine soziale Sättigung und entwickelt eine Sehnsucht nach dieser anderen Welt. Haben Sie auch manchmal eine Sehnsucht nach Einsamkeit?

Gedeck: Ja, ich suche oft die Zurückgezogenheit, um ein bisschen für mich zu sein. Die finde ich bei mir zu Hause. Wenn ich lange unterwegs bin, sorge ich dafür, dass ich einige Tage allein sein kann. Da vergesse ich die Pflichten und die Termine. Ich brauche die Ruhephasen, weil ich ein sehr beanspruchendes Leben habe. Auch mein Sozialleben ist sehr intensiv. Da muss einfach eine Verortung stattfinden. Die ist wichtig, weil ich mich gerade in diesen Ruhephasen als Mensch weiterentwickle. Das merke ich ganz konkret, wenn ich nach einem gesunden Schlaf aufwache und mich wie neu fühle. Es hat sich in mir einfach etwas weiterbewegt. Es findet ein geistiges Wachstum statt. Aus diesem Grund braucht der Mensch Schlaf. Ohne ihn würde er sich nicht weiterentwickeln. Die Zeiten, in denen nichts passiert, empfinde ich heute nicht mehr als Angst- oder Verlassenheits-Zeiten, sondern als Glückszeiten.
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Hauptdarstellerin Martina Gedeck und Regisseur Julian Pölsler freuen sich auf der Deutschlandpremiere von "Die Wand" am 4. Oktober 2012 in München
Ricore: Die Dreharbeiten zu "Die Wand" fanden mit einem kleinen Team statt. Auch das kann man sich als Oase der Ruhe vorstellen, bei der man sich auf das Wesentliche konzentrieren könnte...

Gedeck: Ja, das darf man nicht unterschätzen. Dabei ging es während der Dreharbeiten gar nicht ausschließlich um mich. Auch der Hund und die Katze brauchten Aufmerksamkeit und Anweisungen. Darum waren wir gerade in den Innenräumen sehr damit beschäftigt, eine Atmosphäre herzustellen, die für die Tiere stimmt. Dazu brauchte man viel Geduld. Die Katze dazu zu bringen, dass sie sich auf dem Set wie zu Hause fühlt, war gar nicht so einfach. Das ganze Team musste sich zurücknehmen. Es lief alles sehr intim und konzentriert ab. Fast wie bei einem Dokumentarfilm.

Ricore: Man stellt sich die Zusammenarbeit so still vor, wie es der Film ist.

Gedeck: Ja, die Zusammenarbeit verlief sehr leise. Ich und Julian Pölsler hatten ohnehin eine eigene Sprache entwickelt. Er wusste, dass er mich beanspruchen kann, wie er es braucht. Auch ich hatte das Gefühl, dass ich mit ihm durch Dick und Dünn gehen kann. Wir hatten großes Vertrauen ineinander. Das war ein großes Geschenk und im Filmgeschäft außergewöhnlich. Eine der schönsten Erfahrungen meiner Karriere.

Ricore: Die Wand im Film ist eine Metapher für jede Art von Widerstand. Wie reagieren Sie, wenn Sie in Ihrem Leben gegen Wände stoßen.

Gedeck: Ich erkenne die Wand nicht an. Ich unterlaufe sie, indem ich insgeheim weiß, dass es Wände eigentlich nicht gibt. Wenn sich eine Wand mir in den Weg stellt, dann gehe ich davon aus, dass sie sich auflösen wird. Ich renne aber nicht dagegen an. Ich akzeptiere sie einfach nicht. Ich kann nicht akzeptieren, dass meine Freiheit begrenzt wird.

Ricore: Geht diese Taktik des Ignorierens auf?

Gedeck: Ja, es klappt. Es ist oft vorgekommen, dass sich Widerstände, die sich meinen Wünschen und Zielen in den Weg stellten, einfach auflösten. Oft hat sich das, was ich mir insgeheim wünschte, tatsächlich irgendwann erfüllt. Aber nicht auf die Weise, wie ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte.
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"Die Wand" von Marlen Haushofer aus dem Verlag Hörbuch Hamburg
Ricore: War für sie Regisseur Julian Pölsler auch eine Art Wand? Er hatte in einem Interview gesagt, dass Sie zunächst nicht seine erste Wahl für die Rolle waren. Er soll vielmehr Juliette Binoche im Sinn gehabt haben. Inwiefern mussten Sie diesen Widerstand überwinden?

Gedeck: Es gab am Anfang verschiedene Möglichkeiten, das Projekt aufzuziehen. Man hätte den Film auch mit amerikanischem Geld finanzieren können. In dem Fall hätte nicht ich die Hauptrolle gespielt, sondern eine Amerikanerin. Wenn es eine französische Koproduktion geworden wäre, dann wäre es vielleicht eine französische Schauspielerin geworden. Die Rolle hat stark von den Produktionspartnern abgehangen. In dem Moment, als "Die Wand" eine österreichisch-deutsche Produktion wurde, war klar, dass ich die Rolle spiele. Wir haben uns von Anfang an künstlerisch sehr gut verstanden. Ich schätze Julians Filme ungemein. Bereits vor der Zusammenarbeit bei "Die Wand" hatten wir uns verabredet und ausgemacht, dass wir was zusammen machen wollen. Insofern musste ich ihn weder als Menschen noch als Regisseur zu überwinden.

Ricore: Kommt es beim Filmemachen nicht zwangsläufig zu Abgrenzungen, da hier verschiedene künstlerische Persönlichkeiten zusammentreffen?

Gedeck: Es gab tatsächlich eine gewisse Abgrenzung, was die eigene Künstlerschaft angeht. Es gibt bestimmte Dinge, bei denen man lieber nicht über den eigenen Tellerrand blickt. Das gehört zur Filmarbeit, bei der verschiedene Künstlerpersönlichkeiten zusammenfinden, einfach dazu. Ich finde es in Ordnung, wenn ein Regisseur mir nicht en Detail seine künstlerischen Ideen verrät. Es würde mich nur belasten, weil ich mich selber ständig bespiegeln würde. Umgekehrt teile auch ich dem Regisseur nicht mit, wie ich arbeite und was für mich das Wichtigste ist.

Ricore: "Die Wand" konnte nur stückweise gedreht werden, da man die Wetterbedingungen einbeziehen musste. Wie kamen Sie mit den Unterbrechungen zurecht?

Gedeck: Ich konnte aus der Spannung der Figur nicht rausgehen. Sie hat mich anderthalb Jahre begleitet.

Ricore: Wie kamen Sie mit dem Drehort zurecht?

Gedeck: Es war für mich immer wieder wie eine Reise in eine andere Welt. Vor allem der Winter war für mich gewöhnungsbedürftig. Er war so hart, dass wir manchmal nicht mit den Autos an den Drehort fahren konnten und unsere Ausrüstung mit den Schlitten transportieren mussten. Die Bedingungen waren sehr karg. Es gab kein warmes Wasser, keine Toilettenspülung und geheizt haben wir mit Kachelöfen. Es war sehr abenteuerlich.

Ricore: Hat sich Ihr Verhältnis zur Natur durch diese Erfahrung verändert?

Gedeck: Ich habe durch diesen Film Menschen kennengelernt, die in der Natur leben und sich hier zu Hause fühlen. Sie sind mit sich im Reinen und strahlen eine große Gelassenheit aus. Ich stellte fest, dass es doch eine geistige Wirklichkeit gibt und dass wir noch Teil der Natur und nicht von ihr ausgeschlossen sind. Das hat mich sehr berührt. Ich merkte, dass ich nicht mehr so ungeduldig gegenüber der Natur bin und mir schon mal Zeit nehme, um mich ihr hinzugeben. Es ist noch alles da, die Bäume, die Tiere. Das alles umgibt und trägt mich noch. Das ist beruhigend. Das vergesse ich manchmal. Durch die Arbeit an "Die Wand" ist es mir wieder eingefallen.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 9. Oktober 2012
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2024