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Jürgen Vogel auf der Party nach der Premiere von "This is Love"
Der Mensch wird schuldig geboren
Interview: Jürgen Vogel sucht das Abgründige
In "Der freie Wille" verstörte er als Sexualtriebtäter die Nation. Umstritten ist auch "This is Love", der von den pädophilen Neigungen eines Mannes zu einem achtjährigen Mädchen handelt. Filme, in denen Jürgen Vogel mitspielt, wagen sich an schwierige Themen. So auch "Gnade", in dem der 44-Jährige erneut mit Regisseur Matthias Glasner zusammenarbeitet. Darin spielt er einen Mann, der sich mit der Schuld seiner Frau und seinem Gewissen auseinandersetzen muss. Im Gespräch mit Filmreporter.de verrät der kompromisslose Schauspieler, warum alle Menschen schuldig geboren werden.
erschienen am 16. 10. 2012
Alamode Film
Gnade
Ricore: Sie sagten einmal, dass Sie ab und zu Komödien machen müssen, um von körperlich und psychisch aufreibenden Rollen zu gesunden. Wie anstrengend empfanden Sie die Rolle in "Gnade"?

Jürgen Vogel: Grundsätzlich finde ich es schön, in meinem Beruf soi abwechslungsreich aktiv sein zu dürfen. Ich hatte mal eine Phase, in der ich viele ernste Filme gemacht habe. Das ging so weit, dass ich in meinem Freundeskreis nicht mehr über banale Sachen reden konnte. Ich erkannte, dass das Leben schlimm ist und dachte, dass alle anderen doof sind, da sie nicht mitkriegen, was auf der Welt alles abgeht. Um nicht irgendwann zu verzweifeln, ist es toll, durch leichtere Rollen einen Ausgleich herzustellen. Man sollte wissen, dass das Leben ernst ist. Doch ab und an sollte man auch darüber und über sich selbst lachen.

Ricore: Bei "Gnade" muss die Arbeit vor allem eine körperliche Herausforderung gewesen sein, oder? Es wurde ja im winterlichen Norwegen gedreht.

Vogel: Ja, frieren war angesagt. Wir hatten zwar warme Klamotten, aber es war doch sehr hart. Ich friere ungerne. Es war eine Grenzerfahrung, bei der man aufpassen musste, dass einem nicht die Hände abfrieren. Trotzdem war es eine interessante Erfahrung. Ich mochte es sehr.

Ricore: Der Film spielt in der Zeit der Polarnächte, zwischen November und Januar. Fanden auch die Dreharbeiten in diesem Zeitraum statt?

Vogel: Ja, es herrschten permanent mindestens minus 25 Grad. An einigen Tagen ging das Thermometer bis zu minus 40 Grad runter. Das war vom Wind abhängig. Es war hardcore, aber irgendwie auch geil. Wenn man in seiner Bude hockte, war man überglücklich, dass es warm ist. Generell hat man aber bei einem Dreh umso mehr Spaß, je ernster und härter der Film thematisch ist, da das gesamte Team nach einem Ausgleich sucht. Bei "Gnade" ging sehr albern und lustig zu, es war eine entspannte Arbeit.

Ricore: Welche Rolle spielt die Landschaft in "Gnade"?

Vogel: Die Landschaft des Films hat etwas Eigenes, zugleich ist sie ein Mikrokosmos für die große Welt. Ich mochte besonders die Diskrepanz zwischen der Schönheit der Natur einerseits und ihrer Brutalität andererseits. Die Natur ist nicht immer freundlich. Wenn man in der rauen Winterlandschaft Norwegens eine Autopanne hat und nicht auf Hilfe hoffen kann, erfriert man. Andererseits macht die Natur etwas mit den Menschen. Zum Beispiel sind die Norweger sehr hilfsbereit. Wenn man ein Problem hat, wird einem geholfen. Sie wissen, was es heißt, der Natur ausgeliefert zu sein. Es geht um Leben und Tod. Kurz nach den Dreharbeiten haben wir einige Jugendliche auf Schneemobilen gesehen. Die gerieten später in einen Sturm und erfroren. Das ist dort nichts Ungewöhnliches. Ich habe erkannt, dass die Natur einerseits wunderschön, andererseits auch ein Feind des Menschen sein kann.
Constantin Film
Jürgen Vogel versucht ein Experiment in "Die Welle"
Ricore: Der Film handelt unter anderem von Schuld und Vergebung. Ist menschliche Gnade, die der Film anspricht, ein realistisches oder ein theoretisches Konzept?

Vogel: Der Mensch macht sich von der ersten Sekunde seines Lebens schuldig. Egal was man tut, von den einen wird's als toll empfunden, von den anderen als schlimm. Letztendlich ist alles, was man tut, falsch. Man kann es weder jemand anders noch einem selbst gerecht machen. Man hat keine Wahl, man macht sich schuldig, so oder so. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Diese Frage stellt auch der Film. Wie kommen wir aus unserem Schuldigsein heraus? Und wie gehen wir selbst mit den Fehlern anderer um. Verzeihen wir ihnen oder nicht? Das sind philosophische Fragen und die muss jeder für sich selbst beantworten. Es gibt keine Regeln und Vorschriften, wie man damit umgeht. Das ist das Schöne daran.

Ricore: In diesem Sinne überlässt es "Gnade" dem Zuschauer, ob er die Protagonisten begnadigt oder nicht. Wie standen Sie persönlich zu ihrer Schuld?

Vogel: Ich hatte eine zwiespältige Meinung zum Thema. Das Schöne an "Gnade" ist, das der Film einem viele Möglichkeiten gibt, sich zu positionieren. Dazu gehört auch die Option, den Protagonisten zu verzeihen. Sie ist allerdings eine Möglichkeit und keine Notwendigkeit. Ich würde niemals jemanden zur Vergebung zwingen. Jeder muss das mit sich selbst ausmachen und jeder ist für seine Entscheidung selbst verantwortlich.

Ricore: Ist der Mensch von der Geburt an auch mit einem Gewissen, einem Schuldbewusstsein ausgestattet?

Vogel: Das ist die große Frage. Ab wann hat man das Bewusstsein für das, was man tut? Ich denke, das ist ein Prozess. Man wächst da im Lauf der Zeit hinein. Es gibt Menschen, die sich ihrer Schuld bewusst sind und darunter leiden. Dann gibt es Menschen, die keinerlei Schuldbewusstsein haben. Warum auch immer.

Ricore: Hat das Selbst- und Schuldbewusstsein in der heutigen Zeit generell abgenommen?

Vogel: Es hat zu jeder Zeit beide Menschentypen gegeben. Aber wie man zur Zeit in den Medien sieht, gibt es viele junge Menschen, die sich gegen die sozial-politischen Verhältnisse zur Wehr setzen. Vieles findet auch im Internet statt. Es ist eine junge Bewegung, die sich traut, nein zu sagen. Es gibt genug junge Menschen, die klar denken und ihre Meinung äußern. Das war schon immer so, auch wenn man manchmal denkt, dass die jungen Menschen heute unbewusst leben und am Zeitgeschehen kaum mehr teilnehmen. Eine Auflehnung gibt es auch heute und das finde ich gut.
Berlinale
Jürgen Vogel in "Gnade"
Ricore: "Gnade" ist bereits Ihre sechste Zusammenarbeit mit Matthias Glasner. Was zeichnet ihn als Regisseur aus, dass Sie immer wieder mit ihm zusammenarbeiten?

Vogel: Prinzipiell liegt es daran, dass wir beide ähnliche Dinge wollen. Wir fordern uns beide und stacheln uns immer wieder an. Wir müssen nicht viel miteinander reden, um uns zu verstehen. Trotzdem können wir uns noch überraschen. Ich mag die Geschichten, die er erfindet und die Art und Weise, wie er das Kino sieht. Umgekehrt kann ich vielleicht dazu beitragen, seine Ideen zum Leben zu erwecken. Ich habe das Gefühl, dass das funktioniert.

Ricore: Sie verstehen sich mit Herrn Glasner auch privat sehr gut.

Vogel: Ja, während der Arbeit unternehmen wir auch privat viel miteinander. Wir nutzen die Zeit, um herauszufinden, wie es uns sonst so geht. Vielleicht arbeiten wir auch deswegen so oft miteinander, weil wir uns irgendwann gegenseitig vermissen und uns während der Arbeit sehr intensiv sehen können. Dann gibt es allerdings auch Phasen, in denen wir uns voneinander erholen müssen. Unser Miteinander kann auch anstrengend sein.

Ricore: Herr Glasner sagte einmal über Sie, dass Ihnen das Schauspielern eigentlich peinlich ist. Wie meint er das?

Vogel: (lacht). Es ist tatsächlich eine Welt, in der ich mich nicht besonders wohl fühle. Nicht das spielen selbst, das Arbeiten und das Kreative, aber alles drum herum ist ein peinlicher Quatsch. Das ganze Rote-Teppich-Theater kann ich nicht anders, als es zu veralbern. Das ist alles Unsinn. So sehe ich mich nicht und so will ich auch nicht gesehen werden. Ich bin ich, auch wenn ich manchmal ein Spinner bin.

Ricore: Durch solche Ansichten und nicht zuletzt durch Ihre Arbeit mit Herrn Glasner gelten sie als einer der kompromisslosesten und uneitelsten Schauspielers Deutschlands. Mit diesem Ruf können Sie sicher gut umgehen.

Vogel: Ja. Es hat mal jemand in einer Kritik über "Der freie Wille" geschrieben, dass mir die Distanz zu meiner Figur abgehe. Die Kritik war im Ton sehr negativ, dennoch fand ich, dass das die beste Äußerung über meine Arbeit war. Ich will keine Distanz zu meinen Figuren. Ich werde einen Film wie "Der freie Wille" nicht mehr machen, aber es werden ähnliche Projekte kommen. Ich finde es toll, Grenzen zu überschreiten. Ich mache es nicht, weil es mich geil mach, Menschen zu provozieren. Die Auseinandersetzung mit Themen und Figuren, die für viele Menschen tabu sind, finde ich notwendig. Für mich ist es auch eine Chance, zu erkennen, wie ich selbst damit umgehe. Es geht nicht darum, Antworten zu finden, sondern um das Nachdenken über ein Thema. Das gehört zum Film dazu und ist die Aufgabe von uns Schauspielern und Filmemachern.

Ricore: Damit haben Sie auch die Möglichkeit, der Scheinwelt des Schauspielbetriebs entgegenzuwirken.

Vogel: Ja, wegen solcher Filme bin ich letztlich Schauspieler geworden. Wenn es einen Grund gibt, die mich dazu bewegt haben, den Beruf auszuüben, dann waren das Filme wie "Taxi Driver", John Hustons "Fat City" und "Henry - Portrait of a Serial Killer". Das sind Filme, die mich sehr berührten. Ich will Filme machen, die mit mir zu tun haben und die den Zuschauer in eine andere Welt mitnehmen. Wir können bessere Menschen werden, wenn wir uns mit wichtigen Themen auseinandersetzen und nicht so tun, als würden sie nicht existieren.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 16. Oktober 2012
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