Hardy Brackmann
Sheri Hagen
Wer zweimal hinsieht, sieht mehr
Interview: Sheri Hagen kämpft für ihre Vision
Sheri Hagen hat ihr Filmprojekt "Auf den zweiten Blick" im Alleingang realisiert. Um die Geschichte - die sie unbedingt erzählen wollte - auf die Leinwand zu bringen, hat sie fünf Jahre gekämpft, recherchiert und Menschen zusammengetrommelt, denen der Film am Herzen liegt. Einer von ihnen ist Pierre Sanoussi-Bliss, der eine der Hauptrollen des Episodenfilms übernommen hat. Vor der Berliner Premiere traf Filmreporter.de die beiden zum Interview.
erschienen am 22. 10. 2013
Hardy Brackmann
Sheri Hagen
Ich bin mit Pumps auf die Welt gekommen
Filmreporter.de: Herr Sanoussi-Bliss, wieso haben Sie sich für die Rolle des Till entschieden, der Sympathischste ist er ja nicht.

Pierre Sanoussi-Bliss: Ich finde den sehr sympathisch. Ich mochte ihn. Der Film heißt ja "Auf den zweiten Blick" und ich fand gut, dass durch das Outing, das er durchmacht, ihm erst die Augen geöffnet werden. Vorher war er gewissermaßen auch blind. Er und seine Frau, die schaukeln an der Wiege, aber nachts geht er in den Park um mit Männern Sex zu haben. Er hat Angst die Augen zu öffnen und sein Leben so zu leben, wie er es eigentlich möchte. Das hat mich an der Figur gereizt.

Filmreporter.de: Konnten sie verstehen, dass er nicht zu seiner Homosexualität steht?

Sanoussi-Bliss: Ich kann das sehr gut verstehen. Es gibt sehr viele Männer und Frauen , die erst mit 40 Jahren ihr Coming-Out haben. Ich habe Freunde, die vorher Kinder in die Welt gesetzt haben, bevor sich der eine etwa mit Mitte 30 von seiner Frau trennte. Der andere war sogar schon 50 Jahre alt. Das passiert. Genauso merken manche Frauen, die erst mit einem Mann zusammenlebten irgendwann, dass sie einer anderen Frau näher sind. Die Frage hat sich mir überhaupt nicht gestellt, warum das bei Till erst so spät kommt.

Filmreporter.de: Wie sind sie mit ihrer Homosexualität umgegangen?

Sanoussi-Bliss: Ich hatte überhaupt kein Coming-Out. Ich bin quasi mit Pumps auf die Welt gekommen (lacht). Ich hatte damit nie ein Problem.

Filmreporter.de: Wie hat ihre Umwelt auf ihre Homosexualität reagiert?

Sanoussi-Bliss: Es gab keinen entscheidenden Punkt, an dem meine Eltern erschrocken reagiert haben oder ab dem ich wusste, oh, ich bin schwul. Meine Mutter fragte irgendwann als ich schon 16 war, stehst du eigentlich mehr auf Jungs oder auf Mädchen. Da habe ich kurz gestutzt, aber sie wusste die Antwort ja schon. Das war weder in meiner Familie noch in meinem Freundeskreis je ein Problem.

Filmreporter.de: Was unterscheidet denn den zweiten Blick vom ersten?

Sanoussi-Bliss: Der erste ist ja der Blick, der nie unter die Oberfläche kommt. Beispielsweise sehen Till und seine Frau auf den ersten Blick aus wie ein perfektes Ehepaar. Sie passen gut zusammen. Aber natürlich fängt es auf einer gewissen Höhe an, sie haben sich schon auseinander gelebt. Das ist normal, das durchschnittliche deutsche Ehepaar redet am Tag nur etwa neun Minuten miteinander. Die Situation dieses Paares ist also nicht ungewöhnlich. Auf den zweiten Blick sieht man jedoch, dass bei den beiden etwas absolut nicht stimmt. Und das mag ich sehr an diesem Film.
Anita Back
Pierre Sanoussi-Bliss in "Auf den zweiten Blick
Pierre Sanoussi-Bliss will Rollen ohne Rassenthematik
Filmreporter.de: Der zweite Blick verrät im Film allerdings auch nicht alles.

Sanoussi-Bliss: Stimmt. Es bleibt offen, ob Till als Schwuler überhaupt glücklich wird. Das wird nicht beantwortet. Doch erstmal hat er für sich einen wichtigen Schritt getan, er kann momentan nur so sein.

Filmreporter.de: Was für Rollen würden sie sich hier in Deutschland als Schauspieler wünschen?

Sanoussi-Bliss: Sämtliche Rollen, hinter denen nicht in Klammern ein Schwarzer steht. Als ganz normaler Mensch besetzt zu werden, ist in diesem Land absolut überfällig. Unsere Filme wirken wie mit Persil gewaschen, rein weiß. Wenn es mal einen Schwarzen gibt, dann hat der einen Migrationshintergrund oder das Problem dreht sich darum, dass er schwarz ist. Die Zuschauer, die ja auch amerikanische Filme mit Halle Berry oder Denzel Washington sehen, sind in jeder Form weiter als unsere Entscheidungsträger.

Filmreporter.de: Wie lange hat es von der Idee gedauert, bis der Film nun ins Kino kommt.

Sheri Hagen: Insgesamt fünf Jahre mit der Recherche. Es gab die Idee und weil ich auch das Blindenthema aufgreifen wollte und die unterschiedlichen Sehbehinderungen. Ich habe lange recherchiert und mit vielen Betroffenen gesprochen.

Filmreporter.de: Sie haben nicht nur das Drehbuch geschrieben und Regie geführt, sondern den Film auch selbst produziert. Was sind die Vor- und Nachteile von so einem Alleingang.

Hagen: Ich habe natürlich versucht, eine Förderung zu bekommen, aber das Projekt wurde abgelehnt. Doch ich bin keine Frau, die sich zu Hause hinsetzt und jammert. Also bin ich selbst losgegangen. Alle, die im Abspann stehen, kenne ich persönlich, ich habe alle selbst angefragt.

Filmreporter.de: Haben sie es mit Crowdfunding versucht?

Hagen: Damals wusste ich davon noch nichts. Aber das wäre eine tolle Möglichkeit gewesen. Dadurch hätte man seine Freiheit und würde keinen Einschränkungen unterliegen. Das Problem ist, dass in Deutschland die Filmförderung meistens an einem Sendeplatz gekoppelt ist. Wenn die Sender kein Interesse haben, ist es kaum möglich, eine Förderung zu bekommen.
Anita Back
Anita Olatunji findet sich in "Auf den zweiten Blick" gut zurecht
Sheri Hagen: viele Hindernisse überwunden
Filmreporter.de: In dem Film kommen einige Themen zusammen, Sehbehinderung, unerfüllte Homosexualität, Schwarze. Doch das macht nicht den Kern der Geschichte aus.

Hagen: Alle Figuren haben eines gemeinsam, sie tragen alle Ballast mit sich herum. Sie müssen lernen, über ihren Schatten zu springen, denn sie halten alle an Altem fest. Kay hat ihr Trauma der Erblindung und des Verlassenwerdens, das sie blockiert. Auch Falk wurde sich abschotten, wenn da nicht seine Tochter wäre, die ihn da herausreißt. Ihretwegen kann er nicht stehenbleiben.

Filmreporter.de: Was für Geschichten wünschen sie sich für den deutschen Film?

Hagen: Schwarze Frauen wie ich tauchen in der deutschen Filmlandschaft fast nicht auf. Für mich gibt es kaum Rollen. Und wenn, dann sind es unterdrückte Frauen. Aber ich will einfach normale Frauen spielen, ohne dass die Hautfarbe das Thema ist. Ich will die Sehgewohnheiten der Deutschen erweitern. Im Deutschen Film gibt es oft nur einen Menschentyp, das sind Stereotypen. Aber ich will vielfältigere Geschichten erzählen.

Filmreporter.de: Woran liegt es, dass hier immer die gleichen Geschichten erzählt werden?

Hagen: Das liegt an den Filmschaffenden. Produzenten, Regisseure, Autoren, Caster, meinen alle zu wissen, was das Publikum interessiert. Doch es ist Zeit, Rollen einmal anders zu besetzen. Neue Gesichter machen aus alten Geschichten neue Geschichten. Wenn ich die Straße entlang gehe, kann ich zwischen verschiedensten Lokalen mit unterschiedlicher Küche wählen, auf den deutschen Film trifft das jedoch nicht zu. Die deutsche Filmlandschaft ist schon lange mehr kein Abbild der deutschen Wirklichkeit.

Filmreporter.de: Vielen Dank für das Gespräch!
erschienen am 22. Oktober 2013
Zum Thema
Sheri Hagen behandelt in ihrer Tragikomödie "Auf den zweiten Blick" dem Lebensweg von sechs Blinden in Berlin. Wie finden diese sich im chaotischen Großstadtdschungel zurecht? Wie entwickeln sich ihre Beziehungen und was widerfährt ihnen auf der Suche nach dem privaten und beruflichen Glück? Der Film ist eine kleine Erinnerung daran, dass man sich über die kleinen Dinge freuen kann und auch mal inne halten muss, um diese wirklich zu bemerken.
2024