Annika Nagel/Senator Film Verleih
Sebastian Schipper
"Film braucht Fehler"
Interview: Sebastian Schipper: Filme fürs Nervensystem
Sebastian Schipper hat einfach mal gemacht, was vor ihm nur wenigen geglückt ist: Er hat einen Film ohne Schnitt in einem einzigen Take gedreht. Was das für eine Herausforderung war, die Kamera einfach einzuschalten, die Schauspieler durch die Handlung ohne festes Drehbuch zu navigieren und nach ca. zweieinhalb Stunden wieder auszuschalten, erzählt er im Gespräch mit Filmreporter.de.
erschienen am 13. 06. 2015
Senator Film Verleih
Victoria
Elliptischer Rhythmus
Ricore Text: Über Ihren Film wird viel geredet und Sie bekommen viel Lob, manchen dauert der Anfang zu lange.

Sebastian Schipper: Manchmal sind die besten Sachen die, die einfach passieren. Ein großes Problem des Filmemachens ist, dass man hier alles verschlimmbessern kann, um es mal mit diesem schönen Wort zu sagen. Man denkt, man könnte alles kontrollieren. Filme werden so geplant, als würde man sich für einen einwöchigen Urlaub vorher alles ganz genau überlegen, damit es unbedingt gut wird.

Ricore: Inwiefern?

Schipper: Man legt vorher fest, wann genau man aufsteht, wann genau man den Sonnenaufgang betrachtet und seinen frisch gepressten Orangensaft dazu trinkt. Wenn alles bis ins Detail geplant ist, muss man sich ja nicht wundern, dass das kein besonders toller Urlaub war.

Ricore: Was heißt das übertragen auf den Film?

Schipper: Man arbeitet ewig lang am Drehbuch, dann setzt man es um und versucht aus diesem Ergebnis den Film zu schneiden. Aber ich glaube, dass oft die Sachen, die sich nebenbei ergeben, wichtig sind. Und bei uns war das die Ausgangslage. Ich finde es gut, dass unser Film nicht so anfängt wie ein Film über einen Banküberfall.

Ricore: Hätte das auch anders sein können?

Schipper: Ich glaube, wenn ich den Film geschnitten hätte, hätte ich schon gedacht, dass ich von Anfang an einen gewissen Rhythmus vorgeben muss. Mir gefällt, dass er jetzt einen so elliptischen Rhythmus hat.

Ricore: So lernt man auch die Protagonisten besser kennen, dadurch funktioniert die Geschichte überhaupt erst.

Schipper: Ja. Wenn ich gefragt werde, ob ich den Film für den Kopf oder für das Herz mache, sage ich immer, ich habe Victoria fürs Nervensystem gemacht. Wenn ein Film langsam anfängt und dann so eine Richtung einnimmt, ist der Zuschauer ganz anders konditioniert, als wenn der Film gleich so einen schnellen Rhythmus hat. Ich wundere mich, wenn Leute sagen, ich fand den Film gut, nur an einigen Stellen war er mir zu lang. Wie soll das gehen? Man kann das eine doch nicht ohne das andere haben. Dann müssten alle Filme ohne Längen tolle Filme sein. Es gibt eine Geschichte von Sidney Lumet, dem ein Produzent nach einem Testscreening vorschlug, einfach alle Szenen mit den höchsten Bewertungen zusammenzuschneiden, um so den besten Film zu erhalten. (lacht)

Ricore: Aber es passiert doch auch viel in Szenen, in denen nur geredet wird.

Schipper: Eben. Ich muss auch zugeben, dass ich eine Schwäche dafür habe, wenn dummes Zeug geredet wird. Ich mag das.

Ricore: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film ohne Schnitt zu drehen?

Schipper: Es fing alles damit an, dass ich den Tagtraum hatte, eine Bank zu überfallen und überlegte, wie ich das machen würde. Aber ich bin ja Filmemacher und kein Bankräuber. Aber dann stellte ich fest, dass ich mich von der Idee, einen Film über einen Banküberfall zu machen, total gelangweilt war und fragte mich, wie das sein kann. Daraus entstand die Idee, das in einer Einstellung zu drehen, um wirklich in die Haut der Protagonisten schlüpfen zu können.

Ricore: Aber warum in einer Einstellung, was ist denn so schlimm an Schnitten?

Schipper: An Schnitten ist gar nichts schlimm. Das ist als würde man sagen, warum fährst du nach Italien, was ist denn so schlimm an Spanien? Wenn man sich für eine Sache entscheidet, entscheidet man sich notwendigerweise gegen eine andere. Ich komme nochmal auf das Optimieren zurück. An Schnitten ist oft "schlimm", dass man alle Fehler rausnimmt. Aber Film braucht Fehler.
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In einem Take gedrehter Thriller "Victoria" (Laia Costa, Franz Rogowski)
Sebastian Schipper: kein Streichelzoo
Ricore: Was für Fehler?

Schipper: Ich habe das Gefühl, dass das Kino, das deutsche und auch das internationale, aufpassen muss, nicht so ein Streichelzoo zu werden. Es ist doch kein Wunder, dass sich ein filmischer Geist, vor allem in den USA, in die Serien geflüchtet hat, denn da passieren auf einmal Dinge, mit denen man nicht rechnet. Es gibt dramaturgisch spannende Wendungen, Charaktere sterben mittendrin und die Figuren dürfen unsympathisch sein. Das sind Sachen, die im Kino nur noch ganz selten vorkommen.

Ricore: Im Kino ist Ihnen also alles zu vorhersehbar?

Schipper: Ja, man hat doch nur die Wahl zwischen Komödien, Filmen, in denen alles explodiert oder Arthouse, das anspruchsvoll oder auch langweilig sein kann. Man sagt bei allen Filmen nur noch, das ist so ein Film wie... Letztendlich bedeutet das aber doch nur, dass der Film nicht so gut ist wie das Original.

Ricore: Erzählen Sie von den Figuren in Ihrem Film.

Schipper: Ich glaube, dass es heutzutage ganz schön rau ist, in unserer Welt ein junger Mensch zu sein. Dafür steht Victoria als Spanierin. Und dann trifft sie auf diese Gruppe von Berliner Jungs, die so bedingungslos zusammenhalten. Sie kommt aus einer privilegierten Familie, hat Klavier am Konservatorium gelernt, die Jungs hatten keine große Chance auf Bildung. Die Welt scheint diesen und vielen anderen jungen Menschen zu sagen, wir brauchen euch nicht. Für viele junge Menschen aus der ganzen Welt ist Berlin ein Sehnsuchtsort, man trifft hier auf Gleichgesinnte.

Ricore: Warum heißt das Mädchen Victoria?

Schipper: Im Nachhinein kann man da natürlich viel Bedeutung hineinlesen, aber ich fand den Namen irgendwie richtig. Da schwingt so eine Euphorie mit. Obwohl es in dem Film so viel Dunkles und Zweifelhaftes und Schmerzhaftes gibt, überwiegt für mich die Hoffnung.

Ricore: Was wäre, wenn es nicht geklappt hätte, den Film in einem Rutsch zu drehen?

Schipper: Wir sind ohnehin so herangegangen, dass wir dachten, vielleicht drei, vier Schnitte zu machen. Dann wären es immer noch sehr lange Plansequenzen gewesen. Es ging nicht darum, den Film in einem Take zu drehen, um ihn nicht zu schneiden, sondern ich dachte, die Bilder werden eine andere Autorität bekommen, wenn wir alles in einem durchspielen.

Ricore: Wie haben Sie die Schauspieler auf diese Aufgabe vorbereitet?

Schipper: Sie mussten ihre Figuren verstehen, verstehen, worum es in den Szenen geht, um in diese Emotionalität hineinzukommen.

Ricore: Sie haben insgesamt drei Takes gedreht. Wird es die anderen vielleicht auf DVD zu sehen geben?

Schipper: Das weiß ich noch nicht. Einerseits wäre es vielleicht interessant, denn der erste Take ist kein richtiger Film. Es wurden zwar keine Fehler gemacht, aber es ist nicht emotional, sondern eigentlich nur die technische Durchführung. Der zweite ist total chaotisch. Aber was würde es bringen, das zu sehen?
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Victoria
Ich will die Figuren verstehen
Ricore: Was macht Ihrer Meinung nach einen Film gut?

Schipper: Ich will die Figuren verstehen, ihre Motivationen, etwas zu sagen oder zu tun. Oft sehe ich einen Film und frage mich, warum macht der das denn jetzt? Warum sagt der das? Ich glaube in unserem Film kommt das kaum vor und das macht seine Stärke aus. Nicht, dass er in einem Take gedreht ist.

Ricore: Wie haben Sie die Drehorte für Victoria gefunden?

Schipper: Wir wussten, dass wir in ein großes Hotel wollen und das Westin Grand in Berlin hat mitgemacht. Von da ergaben sich dann die restlichen Handlungsorte, denn es musste ja in der Nähe sein.

Ricore: Wieso zeigen Sie nicht den Banküberfall, sondern nur die Probe dafür?

Schipper: Eine falsche Vorstellung des Kinos ist es ja, dass man alles Wichtige abfilmen kann. Aber das stimmt nicht, ganz viel findet im Kopf des Zuschauers statt. Ich halte nicht viel von Close-Ups, jemandem direkt ins Gesicht zu filmen. Es macht eine Szene nicht traurig, nur weil man sieht wie jemand weint. Ein guter Kameramann geht einen Schritt zurück, es geht immer um eine Art von verbergen. Während der Probe des Überfalls bekommen wir eine sehr genaue Vorstellung davon, was beim Überfall passieren wird. Und wenn er dann passiert, sind wir zwar nicht dabei, aber ich glaube, dass das viel intensiver ist. Natürlich gibt es auch Filme über Banküberfälle, in denen das mit Schnitten sehr gut gemacht ist.

Ricore: Sehe Sie Ihre Zukunft eher in der Regie oder im Schauspiel?

Schipper: Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit, das war schon immer Regie. Die Schauspielerei, das waren ja immer nur Episoden, das beschäftigt mich nicht nachhaltig.

Ricore: Was bedeutet Freundschaft für Sie?

Schipper: Dass man gegenseitig auf sich achtet und zusammenhält. Mir gefällt nicht, dass von unserer Welt oft so eine gewisse Form von Geiz vorgegeben wird, dass man zuerst sich selbst durchbringen soll. Man sieht doch, wie unglücklich uns das letztendlich oft macht und dass Solidarität miteinander viel zufriedener macht. Wir als Spezies haben doch nur überlebt, weil wir zusammengehalten haben und nicht als Einzelkämpfer dem anderen eins über die Rübe gehauen haben. Den Erfolg, den wir jetzt mit "Victoria" haben, erleben wir zusammen. Für mich war es ein riesiger Moment, im Wettbewerb der Berlinale zu laufen, so etwas habe ich ja noch nie erlebt. Diesen Schritt in eine internationale Wahrnehmung haben wir zusammen gemacht und das bedeutet mir sehr viel.

Ricore: Haben Sie diesen Erfolg erwartet?

Schipper: Ich wusste, dass der Film was Besonderes wird und dass die, die dabei sind, es nicht bereuen werden. Das wusste ich auch schon bei "Absolute Giganten".

Ricore: War es schwierig, für "Victoria" Investoren zu finden?

Schipper: Wir waren nicht teuer. Ich habe die Leute angerufen, mit denen ich schon zusammengearbeitet hatte, und gesagt, gib mir das Geld, was du mir geben kannst ohne dass es dich stresst. Und die waren dabei. Damit haben wir etwas auf die Beine gestellt, was normalerweise mit diesen Mitteln nicht möglich ist. Die Amerikaner fahren auch völlig auf den Film ab, vor allem weil sie wissen, dass das bei ihrem System nicht funktionieren würde. Die sagen, so einen Film könnten wir hier nie so drehen.

Ricore: Einen amerikanischen Verleiher haben Sie also schon gefunden?

Schipper: Ja. Erst sollte "Victoria" nur in New York und Los Angeles starten, aber mittlerweile startet er in acht Städten. Das ist so verrückt, dabei haben wir doch einfach nur einen kleinen wahnsinnigen Film gemacht.

Ricore: Herzlichen Glückwunsch dazu und vielen Dank für das Gespräch!
erschienen am 13. Juni 2015
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2024