Rapid Eye Movies (REM)
Vortex (2021)
Umgang mit Demenz
Interview: Gaspar Noé zu "Vortex"
Der Argentinier Gaspar Noé lebt und arbeitet seit Jahrzehnten in Frankreich. Mit seinen Gewalt und Sex thematisierenden Filmen erarbeitet er sich seinen Ruf als Skandalfilmer. Mit "Vortex" stellt er beim Filmfestival von Cannes 2021 die Love-Story eines seit 50 Jahren verheirateten Paares vor. Nachdem seine Frau an Demenz erkrankte, kümmert sich der Protagonist liebevoll um seine Frau.
erschienen am 18. 05. 2022
Alamode Film
Regisseur Gaspar Noé ("Love 3D")
Neues Kapitel als Filmemacher
Ricore Text: Schlagen Sie mit dem Film ein neues Kapitel als Filmemacher auf?

Gaspar Noé: Jede Geschichte bedingt ihren Stil. In diesem Moment meines Lebens will ich auch selbst andere Filme sehen als die, die ich mit großem Vergnügen jahrelang inszenierte. Der Tod meiner Mutter war ein Einschnitt und setzte mir zu. Nicht zuletzt bot sich der Dreh eines intimen Dramas für einen Low-Budget-Film an. Er konnte unter Pandemiebedingungen schnell gedreht werden. Innerhalb von sechs Monaten war der Film fertig.

Ricore Text: Ihre Mutter litt an Demenz?

Gaspar Noé: Leider verlor sie lange vor ihrem Tod jeden Kontakt zur Außenwelt, der mit dieser Erkrankung verbunden ist. Als Teenager hatte ich diesen Prozess und die Belastungen für die Angehörigen während der Erkrankung meiner Oma bereits erlebt. Ich akzeptiere diesen biologischen Prozess als Teil des Lebens. Trotzdem bleiben Gefühle der Ohnmacht und des Schmerzes. Beides wollte ich im Film zulassen.

Ricore Text: Fällt es Männern schwerer, sich auf die Pflege einzulassen?

Gaspar Noé: Dazu gibt es wohl keine pauschale Antwort. Männer sterben meist früher als ihre Frauen, dadurch gibt es mehr pflegende Frauen. Außerdem ist der Pflegeberuf vorwiegend in weiblicher Hand. Das ändert sich langsam, aber tief in uns schlummert wohl das Vorurteil, dass die Pflege Männern nicht in die Wiege gelegt wurde. Aber ich habe viele Freunde, die sich um ihre Mütter und Frauen kümmern. Nach 50 Jahren Ehe übernimmt daher in meinem Film der Mann die Fürsorge. Obwohl er sich eher als Intellektueller sieht.

Ricore Text: Er schreibt an einem Buch über Film. Wie viel ist von Ihnen in die Figur eingeflossen?

Gaspar Noé: Der Film ist nicht autobiografisch, aber meine Erfahrungen und Gefühle sind in die Figuren des Vaters und des Sohnes eingeflossen. Viele Situationen kenne ich auch als eigener Erfahrung. Als mir gesagt wurde, dass meine Mutter eine Gehirnoperation braucht, bei der die Überlebenschancen bei einem Drittel stehen, musste ich vorsichtig Abschied nehmen. Insgeheim fragte ich mich, wie soll ich ihr Mut geben, wenn ich nicht den Mut habe, ihr die Wahrheit zu sagen.
Rapid Eye Movies (REM)
Vortex (2021)
Hoffentlich finde ich den Absprung
Ricore Text: Ist es für Filmemacher schwer, in Rente zu gehen?

Gaspar Noé: Wahrscheinlich, wenn ich einige Kollegen beobachte. Ich hoffe, ich finde selbst den Absprung und kann mich ein paar Dingen widmen, die ich immer verschoben habe: Sprachen lernen oder mir Wissen über die Geschichte aneignen.

Ricore Text: Warum nennen Sie die beiden Figuren nur sie und er?

Gaspar Noé: Das halte ich oft so, damit der Zuschauer mit dem Namen keine Vorstellungen assoziiert. Wichtiger ist mir, den Figuren einen Beruf zu geben. Sie war Ärztin und Psychiaterin. Sie hat lange anderen Menschen geholfen und leidet, dass sie es bei sich nicht schafft.

Ricore Text: Warum haben Sie den Film mit Split Screen geschnitten?

Gaspar Noé: Die beiden können sich nicht vorstellen, sich zu trennen. Durch ihre Krankheit leben sie aber bereits in verschiedenen Welten und können nicht mehr am Alltag des anderen teilhaben. Diesen Zustand wollte ich ursprünglich nur in der Eingangssequenz über das Nebeneinander von zwei Bildern auf der Leinwand auflösen. Als ich die ersten Muster sah, war ich so begeistert, dass ich dieses Konzept bis auf wenige Szenen durchziehen wollte.

Ricore Text: Eine Voraussetzung ist, dass Sie auf Dialoge verzichten oder sie aufeinander abstimmen. Landete ein Teil des Drehbuches im Papierkorb?

Gaspar Noé: Im Buch gab es keine Dialoge. Die Schauspieler haben sie improvisiert. Für Françoise Lebrun als Elle war das oft eine Herausforderung. Sie durfte nicht reagieren, wenn der Mann und der Sohn über das Schicksal ihrer Figur diskutieren. Manchmal sind sie dabei rücksichtslos. Wenn Angehörige an Demenz leiden, vergessen wir, dass sie klare Momente haben. So fühlte sich Françoise Lebrun oft.

Ricore Text: Viele Kritiker vergleichen den Film mit Michael Hanekes "Liebe"?

Gaspar Noé: Durch die Belastungen während der Pflege meiner Mutter sah ich "Amour" (Originaltitel von "Liebe", Anm. der Red.) erst nach der Premiere meines Films. Ich bin froh, dass es den Film gibt. Das Thema ist im Kino unterrepräsentiert.

Ricore Text: Danke für das Gespräch.
erschienen am 18. Mai 2022
Zum Thema
Gaspar Noé wird am 27. Dezember 1963 in Buenos Aires, Argentinien geboren und wächst in Frankreich auf. Nach diversen Kurzfilmprojekten, gelingt ihm mit dem Drama "Menschenfeind" der internationale Durchbruch. Der Regisseur ist bekannt für seinen sehr direkten Inszenierungsstil, welcher immer wieder für Aufsehen sorgt und von einigen Kritikern als schockierend bezeichnet wird. Irreversibel" bei den Love 3D". Die expliziten Sexszenen sorgen dafür, dass das Drama in einigen Ländern - etwa..
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Gaspar Noé betritt filmisches Neuland mit dem intimen Kammerspiel zweier Menschen am Ende ihres Lebens. Er tritt dabei ein wenig in die Fußstapfen von Michael Hanekes "Liebe". Die brillant gespielte Love Story zieht den Zuschauer langsam, aber sicher in ihren Bann.
2024