Pandora Film, Eye Eye Pictures, Erika Hebbert
Halfdan Ullmann Tøndel ("Armand", 2024)
Interview zu "Armand"
Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel & Hauptdarstellerin Renate Reinsve
Halfdan Ullmann Tøndel ist der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman. Er gewinnt in Cannes die Caméra d'Or für das beste Regiedebüt. Mit dem gleichen Preis wird er auch bei den Europäischen Film Awards ausgezeichnet. In seinem kammerspielartigen Drama "Armand" prallen zwei Familien in einer Schule aufeinander nachdem deren Kinder sich verbal mit Ausdrücken belegt hatten. Die Hauptrolle übernimmt Renate Reinsve.
erschienen am 18. 02. 2025
Pandora Film, Eye Eye Pictures, Norsk Filmdistribution
Renate Reinsve in "Armand" (2024)
Renate Reinsve steht auf Independent
Ricore Text: Sie hatten mit "Armand" und "A Different Man" gleich zwei Filme im deutschen Kino, jetzt folgt dieses Drama. Wonach wählen Sie ihre Rollen aus?

Renate Reinsve: Ich glaube an den europäischen und den amerikanischen Independent-Film, bei denen der Regisseur der künstlerische Leiter ist. Im Moment gibt es in Norwegen eine unglaublich aufregende Film-Community. Wir haben endlich den Mut, unsere eigene Stimme zu finden und unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Die Regierung unterstützt die Entwicklung und das Publikum will die Filme auch sehen. Meine Projekte wähle ich auch nach den Drehbüchern und dem Gefühl aus. Ich muss mit dem Regisseur eine neue Welt erschließen und etwas Existentielles erzählen können. Dann springt der Funke schnell über. Nicht zuletzt muss ich Lust haben, eine Rolle spielerisch zu gestalten. wenn ich all diesen Schmerz und diese schrecklichen Seiten einer Person spiele, will ich Spaß haben, um sie zu lieben, und all diese kleine Details zu finden, die sie menschlich machen. Solche Rollen lassen mich dann nur schwer los. Noch lange nach der Premiere frage ich mich, ist die Szene richtig geschnitten, habe ich alles aus mir heraus geholt.

Ricore Text: Hatten Sie Renate schon im Hinterkopf, als Sie das Drehbuch geschrieben haben?


Halfdan Ullmann Tøndel: Bevor die Figur einen Namen und einen Hintergrund hatte, habe ich an Renate gedacht. Das war 2016. Wir hatten zwei Tage an einem Kurzfilm zusammen gearbeitet. Es war eine magische Erfahrung, die uns künstlerisch und menschlich zusammengeschweißt hat. Renate hat eine unglaubliche schauspielerische Kraft, die sie bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht richtig ausspielen konnte. Es war daher für mich ein echtes Privileg, für Renate zu schreiben. Außerdem wurden wir über all die Jahre enge Freunde. Ich hatte sogar ein bisschen Angst, dass es am Set langweilig würde, weil wir uns so gut kennen. Aber es war das komplette Gegenteil. Diese Zusammenarbeit war pure Elektrizität.

Renate Reinsve: Wir waren jung und hatten 2016 gerade unsere Karrieren begonnen. Wir waren uns einig, wie tief wir in unbekanntes und unkontrollierbares Terrain eintauchen wollten und hatten dann tatsächlich Tränen in den Augen, als der Dreh zu Ende war. Wir wussten, dass wir wieder einen Film miteinander machen würden. Es hat nur wegen der Finanzierung so lange gedauert.

Ricore Text: Seit wann wussten Sie von dem Buch?


Renate Reinsve: Ich habe alle Entwürfe gelesen und wir haben oft über Elisabeth gesprochen. Die Herausforderungen wurden stetig größer, weil die Figur und die Geschichte komplexer wurden. Das räumte Halfdan bei jeder neuen Drehbuchfassung kleinlaut ein. Zugleich ist eine solche Rolle aber ein seltenes, Geschenk für eine Schauspielerin. Ich konnte an meine Grenzen gehen und noch ein bisschen weiter. Jetzt ich bin sehr stolz darauf, was wir geschafft haben.

Ricore Text: Was waren die Herausforderungen bei der Darstellung einer Figur, die sowohl verletzlich als auch potenziell gefährlich ist?


Renate Reinsve: Diese Dynamik war tatsächlich extrem schwierig zu finden. Sie ist manipulativ, oft ohne es zu wissen, manchmal aber auch absichtlich. Ich musste mich auf dieses Spiel einlassen, das fiel mir wirklich schwer. Zugleich musste ich mich auf ihren Schmerz und Trauer einlassen, das war mental schwer zu ertragen und schwer darzustellen.
Pandora Film, Eye Eye Pictures, Norsk Filmdistribution
Renate Reinsve in "Armand" (2024)
Erkundung von Themen und Gefühlen
Ricore Text: In Erinnerung bleibt vor allem die Szene, in der sie einfach nur laut lacht. Wie ist es zu dieser Idee gekommen?

Renate Reinsve: Der Zusammenbruch war im Drehbuch mit drei nüchternen Sätzen beschrieben. Wir wussten, dass es ein Wendepunkt für die Figur und sehr wichtig für den Film sein würde. Trotzdem war lange unklar, wie dieser Nervenzusammenbruch gestaltet werden soll. Als wir nach den Proben in den Dreh gingen, war ich ungeheuer unsicher und nervös. Deshalb habe ich unseren Tontechniker, einen lustigen Typ, gebeten, mir einen schmutzigen Witz zu erzählen. Ich fing an zu lachen, das hat mich irgendwie in Schwung gebracht. Und dann hatten wir die rettende Idee für diese Szene. Während des zehnstündigen Drehs habe ich tatsächlich die Kontrolle verloren, und das Lachen in mir wiedergefunden. Anschließend hat Halfdan mir fünf Tage frei gegeben, damit ich mich von dem Stress erholen konnte.

Ricore Text: Was sagt dieser Film über die Macht von Gerüchten und Vorurteilen?


Halfdan Ullmann Tøndel: Menschen entscheiden ständig, welche Informationen sie an sich heran lassen. Sie müssen zunächst zu unserem Denken und unserer Perspektive auf die Welt passen. Sonst fällt es uns schwerer, sie zu akzeptieren. Zugleich erzählen die Geschichten, die wir über uns und andere erzählen, immer sehr viel über uns selbst. Wenn jemand Gerüchte verbreitet sagt das mehr über ihn aus, als über den Betroffenen.

Renate Reinsve: Wir haben im Vorfeld oft darüber gesprochen, wie schnell der Ruf eines Menschen und seine soziale Existenz auf dem Spiel stehen, wenn anderen über ihn herziehen. Es spielt dabei keine Rolle, welche Absichten derjenige hat, der Gerüchte oder Falschinformationen streut. So vieles geht dabei kaputt, das oft niemals wieder ausgeräumt werden kann.

Halfdan Ullmann Tøndel: Neben Vorurteilen interessierte mich auch unser Umgang mit Traumata und wie sich Eltern in den Kindern spiegeln. In den vergangenen Jahren hatte ich das Gefühl, dass Eltern ihren Kindern die Verantwortung und die Autonomie entzogen haben, die wir als Kinder hatten. Wir haben viele Streitereien unter uns geregelt, heute schalten sich die Eltern ständig ein und nehmen den Kindern die Verantwortung ab. Im Guten wie im Schlechten. Eltern übertragen das Benehmen von Kindern oft auf ihre Sozialisation. Dies ist letztlich schädlich für die Entwicklung der Kinder und der Eltern, die bei der Lösung von Konflikten nicht aus ihrer Haut kommen.

Ricore Text: Sie haben selbst in einer Schule gearbeitet. Haben Sie solche Situationen erlebt?


Halfdan Ullmann Tøndel: Es gab ähnliche Situationen. Die Entwicklung des Stoffes begann, als ich von der Eskalation des Streits zwischen Eltern nach einem Unfall beim Schulausflug ihrer sechsjährigen Söhne hörte. Sie hatten sich mit Sätzen traktiert, die niemand von Jungen diesen Alters erwarten würde. Meine Phantasie setzte sofort ein. Wer waren sie und wie ticken ihre Eltern? Ich hatte das Gefühl, dass dies eine gute Spielwiese für die Erkundung der Themen und Gefühle ist, mit denen ich mich beschäftige.
Pandora Film, Eye Eye Pictures, Norsk Filmdistribution
Renate Reinsve in "Armand" (2024)
Renate spielt wieder die Hauptrolle
Renate Reinsve: Ich habe solche Auseinandersetzungen nie erlebt. Ich habe aber das Gefühl, dass das Geschehen im Klassenzimmer eine Metapher ist. Viele Menschen haben sich angewöhnt, ihre Traumata und Ängste ständig auf andere zu projizieren. Das verursacht Spannungen in ihren Beziehungen. Unsere Vorurteile und festen Vorstellungen von dem, wie die Welt zu sein hat, machen es auch zunehmend schwieriger, auf andere zuzugehen und Lösungen zu finden.

Halfdan Ullmann Tøndel: Das war auch mein Einstieg. Für mich entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine moderne Hexenjagd, wie sie zu oft öffentlich ausgetragen wird. Sie versuchen, sich gegenseitig zu zerstören, um ihre eigene Wahrheit zu schützen. Elisabeth liebt ihren Sohn, sie beschützt ihn mit ihrem Herzen und ihren Krallen. Aber irgendwann eskaliert der Streit. Dann geht es nicht mehr um den Sohn, sondern um alte Rechnungen und eigene Wahrheiten.

Ricore Text: Dann ist es kein Zufall, dass die Geschichte im Klassenzimmer spielt?


Halfdan Ullmann Tøndel: Auch logistisch ergab es Sinn, meinen ersten Spielfilm mit einem begrenzten Budget an einem Ort zu drehen, den ich filmisch visuell und akustisch wirklich erforschen kann. Ich war überwältigt von der Inspiration, was wir an diesem Ort filmisch machen konnten. Die Seele dieser alten Schule kommt langsam zum Vorschein und wird immer lebendiger. Diese Stimmung gibt den Rahmen vor, in dem die Figuren agieren. Um die Leere zu füllen, musste Ich tief in deren Psychologie eindringen. Wie der Film aussieht und klingt, war bereits im Drehbuch angelegt.

Ricore Text: Dieser Ansatz erinnert an Ihren Großvater.


Halfdan Ullmann Tøndel: (lacht) Wenn ich Ideen entwickle, fange ich mit den Figuren an. Ihnen gilt meine Leidenschaft. In diesem Fall war Renates Figur der Ausgangspunkt, eine starke, manipulative und sehr kluge Frau, die plötzlich völlig hilflos ist. Danach erdachte ich die anderen Figuren, die alle von ihrer Angst getrieben werden und in ihren Erzählungen festgefahren sind.

Ricore Text: Arbeiten Sie schon an einem neuen Projekt?


Halfdan Ullmann Tøndel: Ja. Es ist inspiriert von einem schwedischen Roman. Wobei ich aufhören sollte, davon zu sprechen, denn meine Geschichte entfernt sich sehr stark von der Handlung des Romans. Es steht schon fest, dass Renate wieder die Hauptrolle spielen wird.

Ricore Text: Danke für das Gespräch
erschienen am 18. Februar 2025
Zum Thema
Armand (Kinofilm)
Was genau zwischen den beiden Jungen passiert ist, wird wie schon in "Der Gott des Gemetzels" schnell zur Nebensache. Das schwere Drama feiert in der Reihe Un Certain Regard der Filmfestspiele von Cannes 2024 Premiere und geht für Norwegen in das Rennen um den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film.
A Different Man (Kinofilm)
Die Mischung aus Psychodrama und schwarzhumoriger Satire über Schönheitsideale und Verbesserungen des eigenen Aussehens, Neid und Eifersucht und vor allem über fehlendes Selbstwertgefühl feiert ihre Premiere beim Filmfestival von Sundance 2024. Anschließend läuft sie im Wettbewerb der Berlinale
2025