Senator Film Verleih
Samuel Maoz
Der Geruch von verbranntem Fleisch
Interview: Samuel Maoz verarbeitet Trauma
In seinem Spielfilmdebüt "Lebanon" verarbeitet Samuel Maoz seine traumatischen Erfahrungen aus dem Jahr 1982 als Soldat im ersten Libanonkrieg. 25 Jahre konnte er nicht an seinen Erinnerungen rühren, ohne verbranntes Fleisch zu riechen. Erst die zeitliche Distanz machte die Reflexion über den Schrecken möglich. Als das Antikriegsdrama 2009 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig aufgeführt wird, wird es als Sensation gefeiert und mit dem Goldenen Löwen als bester Film ausgezeichnet. Mit uns sprach der israelische Regisseur und Drehbuchautor über seine Erlebnisse im Krieg, den Frieden und die Macht des Films.
erschienen am 16. 10. 2010
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Lebanon
Ricore: Herr Maoz, "Lebanon" basiert auf Ihren persönlichen Erlebnissen, die Sie als Soldat im Libanonkrieg 1982 erlebt haben. Warum haben Sie sich so lange Zeit gelassen, um diese Erfahrung zu verfilmen?

Samuel Maoz: Das erste Mal, als ich mich an den Stoff heranwagte, war unmittelbar nach meinem Filmstudium in den 1980er Jahren. Das war eine seltsame Erfahrung. Die erste Erinnerung, die ich plötzlich beim Schreiben hatte, war der Geruch von verbranntem Fleisch. Ich musste die wenigen Seiten, die ich schon hatte, wieder weglegen. Ich wollte keinen Film als jemand machen, der am Krieg teilgenommen hat. Ich wollte die Erinnerungen und die Schmerzen zu etwas Kreativem kanalisieren.

Ricore: Woran ist der erste Versuch gescheitert?

Maoz: Damals fühlte ich, dass ich emotional noch zu sehr von meinen Erinnerungen mitgenommen war. Hätte ich den Film damals gemacht, wäre daraus etwas Chaotisches geworden. Der andere Grund, wieso ich mir so lange Zeit gelassen habe, war die Rücksicht gegenüber meiner Generation. In Israel nannte man uns die Libanon-Generation. Viele unserer Eltern und Lehrer kamen aus Europa, einige von Ihnen erlebten die Schrecken der Konzentrationslager. Ich kann mich an meine Lehrerin erinnern, wie sie in der Klasse lauthals schrie, dass wir für unser Land sterben müssten. Sie und ihre Generation hatten einen Grund, das zu glauben. Denn sie lebten in der Angst, dass jeder unser Volk vernichten will.

Ricore: Und was für Kinder waren Sie und Ihre Generation?

Maoz: Wir dagegen waren normale Kinder, die in Israel geboren wurden und dort aufwuchsen. Trotzdem unterliefen wir einer Gehirnwäsche. Unverletzt aus dem Krieg zurückzukehren kam damals fast einer Schmach gleich. Wir sollten dankbar sein, dass wir am Leben sind, während die ältere Generation die Konzentrationslager erlebten. Wir hatten einfach das Gefühl, dass die Älteren ihr Erlebnis gegen uns einsetzen. Am Ende konnten und durften wir uns nicht beschweren.
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Lebanon
Ricore: Wie war Ihr Gefühl, als Sie nach 25 Jahren anfingen, das Drehbuch zu schreiben?

Maoz: Während dem zweiten Libanonkrieg fing ich dann an, am Drehbuch zu arbeiten. Ich wartete darauf, den Geruch wieder wahrzunehmen. Doch das passierte nicht. Ich fühlte mich plötzlich frei und fing an zu schreiben. Ich sah alles in neuem Licht und fand den Schlüssel zum Film. Ich verstand, dass ich meine Erfahrung nur anhand einer Story erzählen kann. Es sollte eine Geschichte sein, die man in zehn Sätzen erzählen kann. Ich erkannte auch, dass die Ereignisse von damals lediglich Symptome waren. Der Kern war die blutende Seele und die Notwendigkeit, den Krieg all jenen vor Augen zu führen, die keine Vorstellung von ihm hatten. Ich wollte ein emotionales Verständnis für den Stoff wecken. Es sollte kein Kopf-, sondern ein Bauchfilm werden. Um das zu erreichen, habe ich mich entschlossen, den Zuschauer mit in den Panzer zu nehmen. Er sollte sich mit den Charakteren identifizieren und den Krieg aus ihren Augen sehen, ihn mit den Figuren fühlen. Fühlen sollte in diesem Sinne Verstehen sein.

Ricore: Einige Kritiker sehen "Lebanon" als einen Krieg gegen Israels militärische Vorgehen. Sehen Sie das auch so, oder ist es vielmehr ein Film gegen den Krieg im Allgemeinen?

Maoz: Libanon war mein Krieg, doch am Ende war er ein Krieg wie jeder andere. Dennoch wollte ich keinen politischen Film machen. An was ich am Anfang des Schreibens vor allem dachte, waren meine Freunde und mein Land. Jeder Antikriegsfilm hat das naive Ziel, Kriege zu verhindern. Ich wusste, dass ich das Gegenteil dessen erreiche, was ich erreichen wollte, wenn ich einen politischen Film mache. Die Leute und die unterschiedlichen Parteien hätten ihre Standpunkte nur verhärtet. Aber wenn ich das Herz der Menschen anspreche, werden sich die Denkmuster auflösen. Insofern erzählt "Lebanon" nicht nur meine persönliche, sondern eine globale Geschichte. Er handelt nicht von Politik und Geschichte, sondern von Krieg im Allgemeinen und darüber, was in der Seele eines Soldaten vorgeht. Das schafft Allgemeinverständnis, schließlich ähneln wir Menschen uns in unseren Gefühlen.
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Lebanon
Ricore: Die Situation im Nahen Osten ist noch immer sehr problematisch. Glauben Sie, es wird jemals eine Lösung des Konflikts geben?

Maoz: Ja, das glaube ich. Aber das wird nicht unbedingt aus humanistischen, sondern aus egoistischen und kapitalistischen Gründen passieren. Die Reaktion der Zuschauer auf "Lebanon" hat uns gezeigt, dass diese negativ war, solange es sich um ältere Menschen handelt. Negativ insofern, als diese Menschen sagten, dass es in Israel für einen Film wie "Lebanon" noch zu früh sei.

Ricore: Und die jüngeren Zuschauer?

Maoz: Die jüngere Generation reagierte auf den Film eher positiv. Sie waren sehr interessiert und stellten viele Fragen. Sie konnten nicht verstehen, warum wir den Krieg brauchen. Das ist der Unterschied zwischen den Generationen. Unsere Vorfahren haben immer mit der Überzeugung gelebt, dass man sie vernichten will und dass der Krieg also ihre einzige Möglichkeit ist. Meine Generation befand sich zwischen diesen Standpunkten. Wir haben den Krieg nicht verloren aber auch nicht gewonnen. Die neue Generation würde selbst mit ihrer hoch entwickelten militärischen Ausrüstung gegen eine nicht einmal vorhandene Armee verlieren, weil sie keine Motivation hat. Sie wollen ein normales Leben und keinen Krieg. Der Frieden wird also kommen, weil es keine andere Wahl gibt. Ich hoffe, dass der Frieden so schnell als möglich kommen wird. Denn Zeit bedeutet in diesem Fall Blut.

Ricore: Glauben Sie, dass Sie als Künstler die Macht haben, zum Frieden beizutragen?

Maoz: Ich gebe Ihnen ein Beispiel als Antwort. Die erste Aufführung von "Lebanon" war eine Testaufführung. Als Aufführungsort haben wir einen Ort ausgesucht, der sich rechts der politischen Karte befindet. Nach der Aufführung stand eine Frau auf und begann in Gegenwart ihrer konservativen Gemeinde zu erzählen. Sie sagte, dass sie vor dem Film nur an sich gedacht und eine feste Meinung zum Konflikt hatte. "Lebanon" habe bewirkt, dass sie auch an andere Menschen denkt, zum Beispiel an ihren Neffen, der nächstes Jahr in die Armee eingezogen wird. Sie erzählte, dass sich ihre Interessenschwerpunkte nach dem Film verlagert hätten.
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Lebanon
Ricore: Wie reagierten die anderen Zuschauer auf diese Rede?

Maoz: Ein Teil des Publikums war natürlich gegen sie, einige unterstützten sie. Die meisten nahmen eine Position in der Mitte ein. Das Wichtigste und Erstaunlichste nach der Aufführung war, dass die Menschen diskutiert haben. Sie unterhielten sich über die grundlegendsten Eckpfeiler, die eine Gemeinschaft ausmachen. Sonst wird über solche Dinge nicht gesprochen, sie werden tabuisiert. Ich glaube also, dass Kunst - und vor allem der Film - etwas bewirken kann. Er kann vielleicht keine Kriege verhindern, doch mindestens kleine Schritte hin zu einer besseren Welt tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Frieden kommen wird. Israelis und Palästinenser werden nicht auf Anhieb beste Freunde sein, aber der Frieden wird letztlich kommen.

Ricore: Eine Frage zur Struktur des Films. "Lebanon" spielt ja in einem begrenzten Raum und er erzählt ein intimes Drama anhand einer begrenzten Anzahl von Protagonisten. Glauben Sie, dass das ein Trend im internationalen Kino ist? Hin zu kleinen, persönlicheren Dramen?

Maoz: Ich glaube, die heutige Zeit leidet an einer Überdosis Fernsehen, Internet und ähnlichen Medien. Unsere Aufgabe als Filmemacher ist es, die Sprache des Films nicht nur für die Erzählung einer Geschichte zu benutzen. Wir müssen diese Sprache als Herausforderung betrachten, sie erforschen und sie neu beleben. Wir müssen uns mit der Kunst immer an den Rand begeben, dürfen keine Angst vor Experimenten haben. Das Kino darf nicht nur auf traditionelle Weise funktionieren, es muss weiterentwickelt werden. Wenn wir auf der Stelle treten, wird uns niemand mehr brauchen. Das Kino braucht den nächsten Evolutionsschritt. Andernfalls wird es überflüssig.

Ricore: Haben Sie schon ein neues Projekt in Sicht?

Maoz: Ja, ich schreibe gerade an etwas.

Ricore: Ist das Thema noch geheim?

Maoz: Nein (lacht). Aber ich kann dazu nur sagen, dass ich jetzt für eine schwarze Komödie bereit bin.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 16. Oktober 2010
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