Pandora Film
Andre Wilms in "Le Havre"
"Schreckliche Mittelklasse"
Interview: André Wilms & Blondin Miguel
André Wilms lehnt in einem blauen Sessel und zieht an seiner Zigarette. Die ist nicht echt, man darf im Hotelzimmer nicht rauchen. Neben ihm sitzt der 13-jährige Blondin Miguel, sein Filmpartner in Aki Kaurismäkis "Le Havre". Wilms wird hier als Marcel zum Retter für den kleinen Flüchtling Idrissa. Im Interview mit Filmreporter.de bedauert Wilms, dass Marx heute nicht mehr gelesen wird und fordert die junge Generation zur Revolution auf. Der kleine Miguel hat für die Flüchtlingsfrage ein paar Lösungsvorschläge.
erschienen am 7. 09. 2011
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Andre Wilms und Jean-Pierre Darroussin in "Le Havre"
Ricore: Was treibt Ihre Figur Marcel zu seiner Hilfsbereitschaft an?

André Wilms: Warum machen die Leute so was? Warum machen Sie es nicht mehr? Man merkt, dass es niemand mehr macht und man macht einen Film, in dem vielleicht noch jemand etwas macht.

Ricore: Hat er für seine Hilfsbereitschaft besondere Beweggründe?

Wilms: Er heißt Marcel Marx. Sagt euch Leuten das heute noch was?

Ricore: Ja, der Name sagt mir was. Gelesen habe ich Ihn allerdings nicht mehr.

Wilms: Da fängt das Problem an. Die Leute lesen Marx schon so lange nicht mehr.

Ricore: Muss man für die eigene Hilfsbereitschaft auf eine Ideologie zurückgreifen?

Wilms: Ja. Sonst wäre man nur wie das Rote Kreuz. Das ist natürlich die größte Scheiße. Leute zu helfen, ohne Ihnen sagen: "Du musst auch kämpfen". Das ist die ganze Kacke, bei der alle nach Afrika gehen und sagen: "Gebt Ihnen endlich etwas zu essen!", anstatt zu sagen: "Nehmt Gewehre und schießt euch alle zusammen". Aber stopp, wir sind hier nicht im Charity-Business.
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Andre Wilms und Kati Outinen in "Le Havre"
Ricore: Wenn jeder Europäer an der Mittelmeerküste einen der eingeschleusten Flüchtlinge aus Afrika aufnähme, wäre damit die Flüchtlingsproblematik gelöst?

Wilms: Nein, eine Revolution muss her!

Ricore: In Afrika?

Wilms: Hier. Ihr junge Leute solltet Revolution machen.

Ricore: Und wie sollte die aussehen?

Wilms: Gewaltig!

Ricore: Jeder schnappt sich eine Heugabel und rennt auf nach Guantanamo?

Wilms: Das kann ich euch nicht erklären, ich bin zu alt dafür. Die jungen Leute müssen sich endlich wehren.

Ricore: Wie sollte die neue Welt dann aussehen?

Wilms: Auch das ist euer Problem. Es sollte aber keine Flüchtlinge mehr geben.
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Blondin Miguel in "Le Havre"
Ricore: Ihr Problem ist das also nicht mehr?

Wilms: Zu spät, ich habe verloren. Er (zeigt auf Blondin Miguel) soll es regeln

Ricore: Deshalb auch die nächste Frage an Blondin Miguel: Wie sollte man deiner Meinung nach mit den vielen Flüchtlingen umgehen?

Blondin Miguel: Man gibt ihnen direkt Papiere und lässt sie arbeiten. Man lässt ihre Kinder in die Schule gehen und behandelt sie wie die anderen.

Ricore: Wie müsste man das angehen?

Miguel: Man müsste mal mit dem Präsidenten sprechen.

Ricore: Wie hast Du die Dreharbeiten und die Schule unter einen Hut gebracht?

Miguel: Ich hatte einen Lehrer, mit dem ich nach den Dreharbeiten noch Schulaufgaben gemacht habe. Und ich hatte einen Coach, der mir mit dem Text und einen, der mir mit der Geschichte half.

Ricore: Wie bist du zum Film gekommen?

Miguel: Sie haben bei mir angerufen und gesagt, sie hätten Interesse an mir. Das sagten sie auch einem anderen Jungen aus meiner Schule. Erst nach dem Casting haben sie sich für mich entschieden.
Heiko Thiele/Ricore Text
André Wilms nimmt für Aki Kaurismäki in München den Arri-Preis entgegen
Ricore: Hattest du mehr Interesse daran, die Schauspielerei auszuprobieren oder hat dich der Film selbst interessiert?

Miguel: Ich hatte das Drehbuch nicht gelesen. Aber die Schauspielerei interessiert mich natürlich schon

Ricore: Das heißt, du willst mehr Filme machen?

Wilms: Nein! Verboten! Wegen der Schule.

Miguel: Doch, schon.

Ricore: Was verbindet Marcel und den jungen Idrissa?

Wilms: Gar nichts. Marcel mag die jungen Leute nicht. Er hat ja selber keine Kinder. Dann gibt er dem jungen Flüchtling etwas zu essen und ein bisschen Geld. Plötzlich schließt Idrissa sich ihm an und lässt ihn nicht mehr los. Marcel hat sich eine kleine Menschlichkeit bewahrt. Das ist so eine kleine Sache, an der man erkennt, dass man noch nicht tot ist. Das verlieren Menschen oft.

Ricore: Was ist mit Marcel passiert, bevor er nach Le Havre kam?

Wilms: Er wollte Künstler werden, ist aber gescheitert. Dann ist er in Le Havre Schuhputzer geworden. Doch heute tragen die Leute nur noch Turnschuhe und Sandalen. Was kann er da machen? Außerdem liegt seine Frau im Sterben. Vielleicht wird Marcel in Le Havre durch die Begegnung mit Idrissa erwachsen. Am Anfang ist er das nicht. Da zählt seine Frau ihm Geld ab und gibt es ihm mit den Worten: "Gibt nicht so viel beim Trinken aus". Vielleicht wird am Schluss Idrissa zur Vaterfigur und nicht Marcel. Der Junge macht Marcel groß. Er erzieht ihn zur Menschlichkeit, lässt ihn größer sein, als er ist. Das ist das Ziel und die eigentliche Revolution: Größer zu werden als man ist.
Heiko Thiele/Ricore Text
André Wilms ist einer der Hauptdarsteller in "Le Havre"
Ricore: Wie geht das?

Wilms: Jean Genet hat gesagt: "Die Leute, die die Revolution machen, haben schöne Gesichter". Und Deleuze hat gesagt: "Die Revolution scheitert. Aber das ist kein Grund, sie nicht zu machen".

Ricore: Woher kommt die Gleichgültigkeit des Menschen?

Wilms: Nietzsche hat gesagt: "Denken tröstet nicht und macht auch nicht glücklich". Wenn man ein bisschen denkt, kann man ja nur depressiv werden. Die Leute kapieren sehr schnell, dass sie nicht so viel denken sollen, wenn sie nicht traurig werden wollen.

Ricore: Das heißt, die Revolution sollte keine Kopf- sondern eine Herzensangelegenheit sein?

Wilms: Ich verstehe heute überhaupt nichts mehr. Ich sollte nicht so viel Wasser trinken. Kann ich einen Weißwein bekommen? Ich glaube, das Wasser zerstört mich. Sie fragen mich hier Sachen, auf die nicht einmal Nietzsche antworten kann. Der ist ja dann in eine Irrenanstalt gegangen. Ein Schauspieler ist doof. Stellen sie bitte Fragen für Doofe.

Ricore: Gut, versuchen wir es mit etwas anderem: Le Havre ist eine Arbeiterstadt.

Wilms: Eine aussterbende Art. Das ist sehr schade. Die Menschen verschwinden. Was nachkommt ist die Mittelklasse mit dieser schrecklichen Mitte. Deutschland ist die Krönung der Mittelklasse. Und Frankreich folgt... Ganz Europa ist Mittelklasse. Da gibt es keinen Platz für Gastarbeiter. Das erzählt der Film ja auch.

Ricore: Auch das Schuhputzen, das Marcel betreibt, ist ein aussterbendes Gewerbe.

Wilms: Es gibt in Frankreich keine Schuhputzer mehr. Die Mittelklasse macht die Menschen homogen. Aber fragen Sie doch bitte mehr meinen jungen Kollegen. Er gibt die besseren, weil kürzeren Antworten.
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Blondin Miguel und Andre Wilms in "Le Havre"
Ricore: Blondin, hast du schon ein neues Filmprojekt?

Wilms: Nein, fragen Sie ihn doch nicht so was. Er würde natürlich gerne weiterdrehen, aber er muss erst mal für die Schule weiterlernen, studieren.

Ricore: Was würdest du gerne studieren, Blondin?

Miguel: Ich würde gerne Psychologie studieren?

Ricore: Hast du in deinem Umfeld Menschen, die Flüchtlingserfahrungen gemacht haben?

Miguel: Ja. Aber ich möchte nicht darüber reden.

Wilms: Das ist etwas schwierig für Ihn.

Ricore: Marcel ist ein Mann, der mit wenig zufrieden ist. Der keine großen Bedürfnisse hat. Und Sie?

Wilms: Nein. Ich hoffe, bis morgen zu überleben. Das ist schon genug.

Ricore: Sie haben schon bei mehreren Filmen mit Aki Kaurismäki zusammen gearbeitet. Was verbindet Sie mit dem Regisseur?

Wilms: Wir sind befreundet. Und ich habe ihn schon bewundert, bevor ich mit ihm gearbeitet habe.

Ricore: Wo sind Sie einander zum ersten Mal begegnet?

Wilms: Einfach so, bei einer Zigarette und vor einem Glas Wein. So wie Männer sich eben kennen lernen. Und dann spricht man. Und man spricht hoffentlich menschlich. Wenn man menschlich spricht, geht es gleich weiter.

Ricore: Sehen Sie "Le Havre" eher in der finnischen oder der französischen Filmtradition?

Wilms: In beiden. Kaurismäki ist ein sehr guter Kenner des französischen Films. Trotzdem hat "Le Havre" einen finnischen Touch. Aber er ist nicht wirklich finnisch und nicht wirklich französisch. Kaurismäki ist einer der wenigen Regisseure, die einen poetischen Blick auf die Welt haben. Davon gibt es nicht viele. Vielleicht zehn insgesamt. Die anderen Filme kannst du vergessen, die sind nur Scheiße. Wir haben einfach zu viele Filme, zu viel Theater, zu viel Kultur. Kaurismäki ist einer, der einen unverstellten, wahren Blick auf die Welt hat. Deswegen arbeite ich mit ihm. Der Rest ist durchschnittliche Scheiße. So, jetzt ist Schluss!

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 7. September 2011
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Blondin Miguel hat sein Filmdebüt in "Le Havre". In der leisen Tragikomödie von Aki Kaurismäki spielt er einen 13-jährigen afrikanischen Flüchtling, der auf seiner Flucht nach London unversehens in der französischen Hafenstadt Le Havre landet. Hier nimmt sich seiner ein Schuhputzer an, der die Ausreise des Jungen in die englische Hauptstadt ermöglicht. Miguel geht zur Schule, mit der Schauspielerei will er aber weiter machen, soweit es Schule und Eltern erlauben.
Le Havre (Kinofilm)
Der ehemalige Schriftsteller Marcel (André Wilms) verdingt sich in der französischen Hafenstadt "Le Havre" als Schuhputzer. Am Hafen entdeckt er einen afrikanischen Jungen (Blondin Miguel). Der Flüchtling wollte in einem Frachtschiff nach England fliehen, ist wegen eines Softwarefehlers jedoch in Frankreich gelandet. Marcel entschließt sich, dem Jungen zu helfen und organisiert dessen Weiterfahrt nach London. Aki Kaurismäki schuf mit "Le Havre" keinen sozialkritischen Problemfilm, als vielmehr..
2024