Paramount
Bertrand Tavernier bei der Arbeit an "Holy Lola"
Bertrand Tavernier über Schock und Elend
Interview: Frankreich ist fett und verwöhnt
Bertrand Tavernier war Filmkritiker und Presseagent bevor er 1964 die Seiten wechselte und auf dem Regiestuhl Platz nahm. Mit über dreißig eigenen Filmen und Buchveröffentlichungen über die Kinogeschichte gehört der Franzose heute zu den produktivsten und künstlerisch eigenständigsten Filmemachern der Post-Nouvelle-Vague-Generation. Seine Position als Humanist und sozial verantwortlicher Mahner wird auch in seinem Adoptionsdrama "Holy Lola" deutlich. Auf einer Reise durch die Waisenhäuser Kambodschas schildert er feinfühlig die Suche eines kinderlosen Ehepaars nach dem kleinen privaten Glück.
erschienen am 18. 08. 2005
Paramount
Hauptdarsteller Jacques Gamblin und Isabelle Carré auf Babysuche in: Holy Lola
Ricore: Mr. Tavernier, warum haben Sie ausgerechnet Kambodscha als Drehort Ihres Adoptionsdramas "Holy Lola" gewählt?

Bertrand Tavernier: Ich war fasziniert von Südostasien und brauchte für meine Geschichte ein Land, in dem Adoptionen nicht von heute auf morgen möglich sind. Mali wäre eine Alternative gewesen, doch dort ist die Bürokratie viel organisierter. Ehepaare verbringen dort bei weitem nicht soviel Zeit wie in Kambodscha. Auch wenn die Adoption eines Kindes teilweise erhebliche Schikanen mit sich bringt, bin ich doch der Meinung, dass interessierte Eltern ruhig einige Zeit in dem Land verbringen sollten, aus dem ihr zukünftiges Kind stammt. Das amerikanische Adoptionssystem, bei dem alles in drei Tagen abgewickelt wird, kann für die zukünftige Bindung nicht positiv sein.

Ricore: Was war für Sie die größte Überraschung, als Sie in Kambodscha ankamen?

Tavernier: Dass wir Ausländer, selbst wenn wir uns vorab informiert haben, trotzdem nicht das Geringste über das Land wissen. Die wirklichen Fakten übergehen die Zeitungen, sie interessieren sich nicht dafür. Es gibt dort keine Buchläden, geschweige denn Theater. In Kambodschas blutiger Vergangenheit wurden Ärzte, Journalisten, Poeten, Schriftsteller und Maler umgebracht, um das Land neu zu erziehen. Die Archive wurden zerstört, die Geschichte des Landes ausgelöscht. In vielerlei Hinsicht ist Kambodscha ein vergessener Fleck Erde.

Ricore: Entsprechend schwierig war vermutlich ein Dreh inmitten dieses Chaos?

Tavernier: Ich musste genau planen, was ich von diesem Elend zeige und was nicht. Ich drehte ja keine Dokumentation, sondern filmte durch die Augen eines Ehepaares, das in ein ihnen unbekanntes Land kommt. Oft wollte ich mehr von all dem Leid erzählen und musste mich trotzdem zurückhalten. Wenn Eltern ein Kind adoptieren, bekommen sie einfach nicht die schlimmsten Facetten eines Landes mit. Sie wollen den kleinen Jungen nicht sehen, dessen Augen auf der Müllkippe von Ameisen zerfressen wurden.

Ricore: Ihre Schauspieler setzten Sie dagegen gleich nach Ihrer Ankunft aus Europa einem Realitätsschock aus...

Tavernier: Ich schickte sie sofort zur Müllkippe von Phnom-Penh. Eine Stadt für sich, bewohnt von unzähligen Menschen. Danach mussten sie zwei Waisenhäuser besuchen und vor allem das Völkermordmuseum. Mehr brauchte es nicht, um dort richtig anzukommen.
Paramount
Regisseur Bertrand Tavernier am Set von "Holy Lola"
Ricore: Wie entgegenkommen waren Behören und öffentliche Einrichtungen mit Drehgenehmigungen und sonstigen Zugeständnissen?

Tavernier: Wir befolgten den Rat eines einheimischen Regisseurs und stellten uns nicht nur beim Premierminister und dem König vor. Nein, wir gingen auch in die kleinen Behörden und sprachen mit ihnen vor Beginn der Dreharbeiten direkt über unser Anliegen. Dabei kam mir zugute, dass 75 Leute aus dem insgesamt 100 Mann umfassenden Team Einheimische waren. Man behandelte uns während der ganzen Zeit gastfreundlich und unterstützte und in allen Belangen. Ich hatte sogar einen Bodyguard, der nur dafür da war, mit über die Straße zu bringen.

Ricore: Erscheinen die eigenen Probleme bei derartigen Zuständen nicht auf einmal völlig nichtig?

Tavernier: Das zu zeigen war mitunter die Idee des Films! Wenn man wie ich nach einigen Monaten aus Kambodscha zurückkommt, wirkt Frankreich wie eine fette, verwöhnte Nation, deren Probleme eigentlich relativ nichtig sind. Es mag vielen in unserem Land schlecht gehen, das stelle ich außer Frage, aber diese Menschen besitzen immer noch so viel mehr als eine vergleichbare Gesellschaftsschicht in Kambodscha. Und trotzdem tritt man dort mit einem Enthusiasmus, einer Liebe, Höflichkeit und Gastfreundlichkeit auf, die mich als Europäer tief beeindruckt hat. Die Schönheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit, mit der die Menschen dort dem Elend begegnen, ist für jeden Ausländer eine Lektion. Ich bin heilfroh, diese Erfahrung gemacht zu haben.

Ricore: Dabei stammte die Buchvorlage und somit die Idee ja eigentlich von Ihrer Tochter Tiffany...

Tavernier: Ihre Geschichte spielt eigentlich im indischen Kalkutta, nur hätten wir dort einfach nicht drehen können. Filmteams sind dort nicht erwünscht, es hätte zu viele Probleme nach sich gezogen. Als wir die Story nach Kambodscha verlegten, war Tiffany mir auch vor Ort noch eine große Hilfe. Wir haben viel gemeinsam, brüllen auch beide vorschnell los, aber letztlich können wir fantastisch zusammenarbeiten.

Ricore: Wessen Idee war es, die Protagonisten in keinem allzu guten Licht erscheinen zu lassen?

Tavernier: Wir haben das sehr bewusst entschieden. Denn ich frage mich immer, warum man sogar mit seinem besten Freund Auseinandersetzungen haben kann, aber auf der Leinwand immer die hundertprozentige Identifikationsfigur gefordert wird. Ist es nicht wesentlich interessanter, bei gewissen Aspekten unterschiedlicher Meinung zu sein und sich auf den Diskurs einzulassen? Ich setze solche Momente bewusst, ich will keine aalglatten Protagonisten. In den seltensten Fällen spiegeln die Aussagen meiner Filme auch meine persönliche Meinung wieder. Davon nehme ich Abstand.
erschienen am 18. August 2005
Zum Thema
Bertrand Tavernier ist Filmkritiker und Presseagent, bevor er 1964 die Seite wechselt und auf dem Regiestuhl Platz nimmt. Mit über 30 Filmen und mehreren Buchveröffentlichungen über die Kinogeschichte gehört der Franzose zu den produktivsten und künstlerisch eigenständigsten Filmemachern der Post-Nouvelle-Vague-Generation. Der Humanist und sozial verantwortliche Mahner bringt seine gesellschaftspolitischen Positionen in seinen Werken konsequent zum Ausdruck. Ein Sonntag auf dem Lande" beim Um..
Holy Lola (Kinofilm)
Das junge Ehepaar Pierre (Jacques Gamblin) und Géraldine (Isabelle Carré) reist nach Kambodscha, um ein Kind zu adoptieren. Eine Odyssee durch Waisenhäuser und lokale Behörden konfrontiert sie mit bestechlichen Beamten, illegalem Kinderhandel und den Folgeschäden des Bürgerkriegs. In seinem neuen Spielfilm experimentiert Bertrand Tavernier an der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation und liefert ein bewegendes menschliches Drama vor der Kulisse eines durch seine Geschichte gebeutelten..
2024