Neue Visionen Filmverleih
Leïla Bekhti in "Maria Montessori" ("La nouvelle femme", 2023)
Neue Sicht auf Reformpädagogin?
Interview: Léa Todorov zu "Maria Montessori"
Léa Todorov studiert Politik in Paris, Wien und Berlin. Anschließend beginnt sie als Autorin, Regisseurin und Produzentin von Dokumentarfilmen zu arbeiten. 2017 feiert "Révolution Ecole: 1918 1939" über Reformpädagogikprojekte Premiere, für den Todorov das Drehbuch schreibt. Jetzt kommt ihr erster Spielfilm in Deutschland ins Kino. Sie porträtiert in "Maria Montessori" die Ärztin und Reformpädagogin während ihrer Jahre in Rom, wo sie ein Institut für die Betreuung von Kindern mit Behinderungen und für die Ausbildung von Erzieherinnen aufbaut.
erschienen am 8. 04. 2024
Neue Visionen Filmverleih, François Berraldacci
Léa Todorov ("Maria Montessori", 2023)
Neue Aspekte von Maria Montessoris Persönlichkeit?
Mit der französischen Prostituierten Lili d'Alengy (Leïla Bekhti) schmiedet Maria Montessori (Jasmine Trinca) ein Netzwerk von Frauen, die sie unterstützen. Der Preis für die berufliche Entfaltung und Freiheit ist hoch. Ihren eigenen Sohn bringt Maria Montessori bei einer Bäuerin auf dem Land unter, wo sie ihn nur selten sieht. Kein Vorbild.

Ricore Text: Sie sind nicht die erste Künstlerin, die ein Biopic über Maria Montessori angeht. Welche neuen Akzente setzen Sie dabei?

Léa Todorov: Ich habe beinahe alles zu ihr gelesen und hatte den Eindruck, dass sie in den Filmen nicht richtig getroffen wurde. Sie hat ein großes Geheimnis um ihr privates Leben gemacht und ihre eigenen Mythen aufgebaut. Ich wollte hinter diese Mythen sehen. Sie hat zum Beispiel die Legende aufgebaut, sie hätte als erste bei ihrer Arbeit als Ärztin die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen bemerkt. In Wirklichkeit setzte sie als Erste bei der Arbeit mit ihnen um, was die Wissenschaft längst erkannt hatte. In einer Serie des italienischen Fernsehsenders RAI wird sie auch als Opfer ihrer Umgebung gezeichnet. Ich will das nicht kritisieren, aber dieses Bild von ihr korrigieren.
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Jasmine Trinca in "Maria Montessori" ("La nouvelle femme", 2023)
Figur der französischen Prostituierten fiktiv
Ricore Text: Sie reihen sich in einer Reihe französischer Filme wie "Geliebte Köchin" ein, die ein differenzierten Blick auf Frauen Ende des 19. und am Anfang der 20. Jahrhunderts werfen. Ist die Vielzahl ein Zufall?

Léa Todorov: Diesen Trend gibt es zum Glück nicht nur in Frankreich. Frauen brauchen Vorbilder, keine Opferbilder. Diese Sicht sind wir besonders den Heranwachsenden schuldig, deren Weltbild von solchen Frauen geprägt werden sollte. Ich bin Feministin, und will aktive Frauen porträtieren, die ihr Schicksal in einer schwierigen Situation selbst bestimmen. Die Chancen ergreifen, wo sie die Möglichkeit sehen. Maria Montessori wollte zum Beispiel nie heiraten. Sie wusste, dass sie in der Ehe erheblich in ihrer beruflichen Entfaltungsmöglichkeit eingeschränkt worden wäre.

Ricore Text: Was hat Sie überzeugt, dass dies besser in einem Spielfilm als in einem Dokumentarfilm zu vermitteln ist?

Léa Todorov: Ich wollte schon lange zum Spielfilm wechseln, hatte aber keine Ahnung, wie ich das schaffen kann. Ich war ja nie auf einer Filmhochschule. Deshalb war ich überglücklich, als mir Produzent Grégoire Debailly nach dem Erfolg von "Révolution Ecole: 1918 1939" anbot, ein Drehbuch über Maria Montessori zu schreiben. Ich spürte instinktiv, dass sie eine tolle Figur sein kann. Nach der ersten Drehbuchfassung hat Grégoire Debailly mich ermutigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Er half mir sehr, die Geschichte abzurunden, die Struktur zu verbessern und um die Figuren eine glaubhafte Handlung zu entwickeln.

Ricore Text: Welche Freiheiten haben Sie sich nehmen können, um die Authentizität nicht zu verfälschen?

Léa Todorov: Die Figur der französischen Prostituierten Lili d'Alengy habe ich mir ausgedacht. Sie basiert auf dem Schicksal von vielen Frauen, mit denen Maria Montessori in Kontakt stand. Sie ist Französin, weil ich eine Figur brauchte, die mir sehr nahe ist. Ich begann mit den Arbeiten am Buch unmittelbar nach der Geburt meiner Tochter, die mit einer Behinderung auf die Welt kam. Ich kenne aus eigener Erfahrung die Reaktionen der Umgebung auf meine Tochter. Und die Frage, warum das Schicksal uns ausgesucht hat, um uns liebevoll um sie zu kümmern.

Ricore Text: Sie haben mit Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen gedreht. Standen die Kinder vorher bereits auf der Bühne oder vor der Kamera?

Léa Todorov: Die Kinder hatten keinerlei künstlerische Erfahrungen. Wir haben sie in Spezialeinrichtungen um Paris gesucht. Mein Ziel war, sie im Film so zu zeigen, wie sie sind und wie ich sie sehe. Dafür musste ich in die Arbeit mit ihnen viel Energie investieren. Damit sie mir vertrauen, dass sie gut sind. Ich musste sie ständig bestärken, dass sie alles schaffen können. Zum Beispiel so viel Italienisch lernen, dass sie den Dialogen folgen können. Aber vor allem muss man eine wirkliche Nähe zu ihnen aufbauen.
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Jasmine Trinca & Leïla Bekhti in "Maria Montessori" ("La nouvelle femme", 2023)
Konnte mir keine andere in der Rolle vorstellen
Ricore Text: Das gilt sicher auch für Ihre Hauptdarstellerin Jasmine Trinca?

Léa Todorov: Ich konnte mir nie eine andere Schauspielerin in der Rolle vorstellen, daher habe ich sie schon während des Schreibens mit an Bord geholt. Zur Vorbereitung absolvierte sie ein Praktikum in einer Einrichtung für Kinder mit sehr starken physischen Einschränkungen, und war auch an der Auswahl der Kinder für den Dreh beteiligt. Sie hat ihnen ihr Herz geschenkt, sie wurde für die Kinder eine Maria Montessori. Es war unglaublich, dass zu beobachten. Das unglaubliche Spiel der Kinder ist auch ihrer Liebe zu ihr zu verdanken.

Ricore Text: Maria Montessori sprach von den Betroffenen als Idioten. Hatten Sie Bedenken, die Sprache der Zeit zu nutzen?

Léa Todorov: Es ist ein Dilemma. Aber wir müssen die Worte benutzen, die damals schon stigmatisierend waren und heute nicht mehr sagbar sind. Denn letztlich betreiben wir heute auch nur eine Wortklauberei. Wenn wir heute Kinder mit Behinderung sagen, stempelt es sie genauso ab. Für mich impliziert es die gleiche Ausgrenzung. Meine Tochter ist weder ein Kind mit Behinderung noch eine Idiotin. Sie ist ein Mensch wie jeder andere auch. Wir sollten doch endlich darüber nachdenken, warum wir überhaupt noch Menschen solch Stempel aufdrücken, statt über Worte zu streiten.

Ricore Text: Sollten wir nicht grundsätzlich der Versuchung widerstehen, die Vergangenheit umzuschreiben, weil bestimmte Dinge heutige Befindlichkeiten verletzen könnten.

Léa Todorov: Solche Verbote erschweren unsere Aufgabe, authentisch zu bleiben, gerade in Biopics. Maria Montessori nutzte das Wort Idiot selbst, obwohl sie die Kinder liebte. Und wenn damals jemand das Wort Neger nutzte, war es die damalige Bezeichnung für Menschen dunkler Hautfarbe. Natürlich war und ist es herabwürdigend. Aber wenn wir das Phänomen in Kunstwerken nicht so benennen, wie es war, verstehen unsere Kinder vielleicht gar nicht, worum es uns in dieser Diskussion geht. Das ist auch gefährlich.

Ricore Text: Danke für das Gespräch
erschienen am 8. April 2024
Zum Thema
Niemand ist gegenüber Frauen arroganter, aggressiver und verächtlicher, als ein in seiner Männlichkeit verunsicherter Mann. Für diese Feststellung von Simone de Beauvoir ist das Biopic von Regisseurin Léa Todorov ein weiterer Beweis.
2024