Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Silvio Soldini
Italien hat keine Ahnung von Kultur
Interview: Silvio Soldinis Finanzprobleme
Silvio Soldini schuf mit "Brot und Tulpen" im Jahr 2000 eine romantische Komödie italienischer Art. Leichtfüßig und unschuldig begeisterte er über die italienischen Grenzen hinaus das Publikum. Sein neuer Film, "Tage und Wolken" ist sehr viel realistischer und dementsprechend weniger lustig, aber gleichermaßen erfolgreich. Mit uns sprach der Regisseur an einem sonnigen Julitag in München über die Komplexe italienischer Männer, die Stärke ihrer Frauen und das Problem des Geldes.
erschienen am 13. 11. 2008
Movienet
Tage und Wolken
Ricore: Was hat Sie zu diesem Film inspiriert?

Silvio Soldini: Es ist immer schwer zu erklären, woher der Kern einer Geschichte kommt. Ich persönlich beginne immer mit ganz wenigen Punkten, an denen ich mich festklammere. Allerdings habe ich immer eine klare Idee, was für einen Film ich machen will. Vor "Tage und Wolken" habe ich drei andere Filme gemacht, darunter zwei Komödien und ein Drama. Danach hatte ich Lust, einen realistischeren Film zu drehen. Fast so, als würde ich mit der Kamera durch die Straßen gehen und alles filmen. Dieses Gefühl war sehr stark und wir wollten auch einen Stil finden, der dieses Gefühl von Realität wiedergibt.

Ricore: Das Thema ist ebenfalls sehr realistisch, nicht nur der Stil…

Soldini: Das Thema ist eine andere Sache. Ich wollte ein Paar und deren Beziehung darstellen, das sich schon sehr lange kennt. Es ist keine offensichtliche Liebesbeziehung mehr, obwohl das Paar verheiratet ist und sich auch gut versteht. Sie haben auch eine erwachsene Tochter. Aber wenn man in mein Alter kommt, dann versteht man bestimmte Dinge besser. Ich wollte einfach ein bisschen analysieren, was eine Beziehung zwischen einem Ehepaar ausmacht, was geschieht, wenn es eine Krise gibt und wie sie dieser möglicherweise entfliehen können. Daher habe ich auch alle nur erdenklich schlimmen Dinge erfunden, und das Paar durch die Hölle gehen lassen.

Ricore: Trotzdem gibt es auch den sozialen Aspekt…

Soldini: Ja, ich wollte den sozialen Faktor auf jeden Fall ins Spiel bringen und die Frage in den Raum werfen, wohin Italien geht. Denn es gibt viele Menschen, die an einem gewissen Punkt angelangt sind und glauben, es bleibt immer so. Bleibt es aber nicht. Ich habe mich umgesehen und versucht zu verstehen, was wirklich in unserem Land geschieht.
Movienet Film
Szene aus "Tage und Wolken"
Ricore: Glauben Sie, dass Männer und Frauen auf plötzlich eintretende, große Veränderung unterschiedlich reagieren, so wie Sie es in Ihrem Film auch zeigen?

Soldini: Ja, die beiden Charaktere reagieren unterschiedlich. Bisher hat der Mann das Geld verdient, war das Oberhaupt der Familie. Plötzlich aber ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Arbeit war sein Lebensinhalt, wie es auch in unserer Gesellschaft oftmals ist. Arbeiten zu gehen, das muss sein, das ist aber auch das Recht eines Menschen. Vor allem in Italien ist es nach wie vor stark ausgeprägt, dass der Mann arbeiten geht und die Frau auf die Kinder schaut. Er muss die Familie erhalten. Diese Tradition lastet ziemlich stark auf den italienischen Männern. Auch wenn jemand in Rente geht, verliert er plötzlich einen großen Sinn in seinem Leben, da er ja über viele Jahre hinweg gearbeitet hat. Ein großer Teil des Tages ist der Arbeit gewidmet, man ist dabei ja auch in ein gewisses soziales Umfeld eingebaut. Wenn man das plötzlich wegnimmt, kann ich schon verstehen, dass viele den Boden unter den Füßen verlieren.

Ricore: Und was ist jetzt mit der Frau?

Soldini: Ja, ich glaube schon, dass Frauen anders reagieren. Ein Großteil von ihnen würde nicht so männlich reagieren. In meinem Fall hat es die Frau leichter, sie akzeptiert die Situation und versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Sie nimmt zwei kleine Jobs an und lässt sich nicht hängen, wie ihr Mann. Er fällt an einem bestimmten Punkt in eine tiefe Depression, fühlt sich nutzlos für seine Familie und die gesamte Gesellschaft. Nichts tun zu können und einfach nur abzuwarten, das deprimiert ihn. Ich für meinen Teil kenne seine Situation gut, denn auch wir Regisseure befinden uns oft in schwierigen, um nicht zu sagen, ähnlichen Situationen.

Ricore: Ihre Protagonistin erinnert ein wenig an die Frau in "Brot und Tulpen". Ist das Absicht?

Soldini: Ich finde, dass sich beide Frauen komplett voneinander unterscheiden. Rosalba aus "Brot und Tulpen" kommt aus der Provinz und man merkt ihr das auch an. Sie kam nie aus ihrem Dorf heraus, kennt die Welt nicht und lernt auf einmal Venedig, die Menschen und das Leben kennen. Elsa aus "Tage und Wolken" ist eine Frau von Welt. Sie ist sehr viel gereist, hat studiert, kennt sich bestens aus im Leben. Sie ist auch viel eleganter. Was sie eint, ist ihre Stärke.
TOBIS Film
Brot und Tulpen
Ricore: Es scheint, als würden Sie weibliche Charaktere bevorzugen?

Soldini: In der Tat, ich spreche gerne über weibliche Charaktere, das ist ein Teil von mir.

Ricore: Warum?

Soldini: Nun, in erster Linie gefallen mir Frauen einfach mehr als Männer. Ich arbeite auch lieber mit Schauspielerinnen zusammen.

Ricore: Weil sie einfacher sind?

Soldini: Nein, im Gegenteil, sie sind viel komplizierter. Aber sie besitzen eine größere Sensibilität. Sie sind imstande, Emotionen besser zu vermitteln, sie werden bei Frauen sichtbarer als bei Männern. Das gefällt mir am meisten. Es ist emotionaler mit Frauen zu arbeiten. Außerdem glaube ich, dass man mit Frauen bessere Geschichte erzählen kann, die aber auch uns Männer betreffen. Ich würde mit ihnen aber niemals einen Film über Fußball machen. Das ist Männersache.

Ricore: Frauenfußball hat sich mittlerweile aber auch etabliert.

Soldini: Wirklich? In Italien nicht.

Ricore: Sie schreiben bei fast all Ihren Filmen auch das Drehbuch selbst, eine Doppelbelastung also…

Soldini: Ja schon, es ist nicht immer leicht, aber die schönen Dinge im Leben sind selten leicht. Ich würde aber nicht sagen, dass es doppelte Arbeit ist, sondern die einzelnen Arbeitsschritte sind ja in drei Phasen aufgeteilt. Erst kommt das Drehbuchschreiben, dann die Dreharbeiten und dann der Schnitt. Das sind drei verschiedene Arbeiten. Und das Schöne daran ist, dass ich alle drei machen kann, während der Kameramann, der Schnittmeister oder die Schauspieler lediglich einen Aufgabenbereich haben. Als Regisseur und Drehbuchautor ist man bei der Entstehungsgeschichte schon mit dabei.
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Silvio Soldini
Ricore: Gibt es etwas, was Ihnen besonders an Ihrer Arbeit gefällt?

Soldini: Ja, die Zusammenarbeit mit einem großen, fähigen Team. Sie alle kennen ihren Job und sind sehr professionell. Das ist der Sinn von Kino. Gemeinsam kommt man nämlich auch auf Lösungen, die man alleine wahrscheinlich nicht finden würde. Dieses Zusammenleben mit diesen Menschen für zwei oder drei Monate ist schon etwas Besonderes. Aber auch die Arbeit nach den Dreharbeiten, wenn der Schnitt ansteht, hat etwas Besonderes. Da ist man ja meist nur mehr zu zweit oder zu dritt in einem kleinen Raum. Hier geht es dann ans Eingemachte. Man muss sich entscheiden, in welche Richtung der Film dann gehen soll. Das ist schon ein stressiger Job, da man wichtige Entscheidungen treffen muss, und oftmals nicht weiß, welche Szene richtig oder wichtig ist. Hier entscheidet sich dann auch die Länge des Films.

Ricore: Weiß man schon zu Beginn, wie lang der Film sein soll?

Soldini: Es ist unterschiedlich. Oft steht das ja im Vertrag drin, aber ich mach meine Filme immer länger als vorgeschrieben.

Ricore: Können Sie sich auch vorstellen, einen Film auf Basis eines fremden Drehbuchs zu machen?

Soldini: Ich habe bereits einen Film gemacht, dessen Drehbuch nicht von mir stammt. Das war "Brennen im Wind". Das Drehbuch kam damals von Agota Kristof. Das war das einzige Mal, dass ich das Gefühl hatte, eine Romanze drehen zu müssen. Was mich betrifft, ich muss mich sofort in das Drehbuch verlieben. Der Ton, die Geschichte, es muss einfach alles stimmen, damit ich bereit wäre, es zu verfilmen. Wenn dies nicht gegeben ist, will ich mich erst gar nicht damit beschäftigen und mich anstrengen.
Movienet Film
Antonio Albanese in "Tage und Wolken"
Ricore: Ist es nach Ihrem Erfolg von "Brot und Tulpen" einfacher, einen Film zu drehen?

Soldini: Direkt danach war es tatsächlich einfacher. Ich weiß nicht, ob ich den Film von Agota Kristof ohne "Brot und Tulpen" hätte machen können. Aber ein solcher Film wird wieder schnell vergessen, und die Probleme kehren zurück. Auch mit "Tage und Wolken" hatte ich Realisierungsprobleme.

Ricore: Inwiefern?

Soldini: Nun ja, es war schwierig, das Geld aufzutreiben. Ich hoffe, dass es jetzt endlich einen Wechsel im italienischen Kino gibt. Ich hoffe auch, dass sich die Meinungen und Ideen der Geldgeber ändern. Sie glauben nämlich, die breite Masse wolle nicht ins Kino, um Probleme der Gesellschaft vorgelegt zu kriegen. Wie das auch in "Tage und Wolken" geschieht. Der Film erzählt vom Leben aller, das kann nämlich jeden geschehen. Mir wurde gesagt, niemand würde diesen Film sehen wollen, denn die Menschen gehen ins Kino, um sich zu unterhalten und sich nicht aufs Neue mit ihren Problemen zu beschäftigen. Aber das sind Idiotien, denn "Tage und Wolken" lief in Italien sehr gut.

Ricore: Ist die finanzielle Seite nicht auch ein politisches Problem, gerade in Italien?

Soldini: Ja, aber das war es schon immer. Die Beziehung zwischen Politik und Kultur war schon immer absurd. Wenn Einsparungen zu machen sind, so ist die Kultur immer als erstes dran. Das hat gar nicht so viel mit Berlusconi zu tun, das war schon immer so. Mit ihm hat es sich nur verstärkt. Er hat gar keine Ahnung von Kultur, er weiß nicht, was das ist. In seinen Fernsehanstalten gibt es nicht den Hauch von Kultur. Das Kino dient ihm zum Geldverdienen, aber sonst zu nichts.

Ricore: Glauben Sie nicht, dass sich in den letzten Jahren etwas geändert hat, in der italienischen Filmindustrie?

Soldini: Als "Tage und Wolken" 2000 ins Kino kam, war die Situation noch eine ganz andere. Als ich mit dem Film aus Werbezwecken nach Rom, Mailand, Neapel, Palermo und Venedig gereist bin, ist es jedes Mal vorgekommen, dass Zuschauer aus dem Publikum auf mich zugekommen sind und gesagt haben, der Film sehe gar nicht aus wie ein italienischer Film. Das war ein Zeichen dafür, dass das Urteil des Publikums auf Null gesunken ist. Sie glaubten wohl, es sei ein Kompliment zu sagen, der Film wirke nicht italienisch. Aber so habe ich gemerkt, dass sich viele Regisseure einem ausländischen, vielleicht schon hollywoodesken Stil angepasst haben. Jetzt hat sich diese Situation grundlegend geändert. So etwas würde nun niemand mehr sagen. Der italienische Film hat nun ein viel größeres Publikum. Vor allem 2008 wurden noch nie so viele Filme produziert wie in den letzten sieben Jahren. Es hat sich also schon etwas geändert.

Ricore: Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.
erschienen am 13. November 2008
Zum Thema
Wie viele italienische Regisseure hatte es auch Silvio Soldini schwer, Fuß zu fassen. Das kulturfeindliche Regime Silvio Berlusconis erschwerte über die Jahre die Arbeit von italienischen Regisseuren, Künstlern und Schauspielern. Doch Soldini ließ sich nicht unterkriegen. Im Abstand von zwei bis drei Jahren dreht er seine Spielfilme, die nicht nur die Herzen des italienischen Publikums entzücken. Seinen Durchbruch schaffte er im Jahr 2000 mit der leisen Liebeskomödie "Brot und Tulpen". Aber..
Tage und Wolken (Kinofilm)
Elsa (Margherita Buy) und Michele (Antonio Albanese) sind glücklich verheiratet, reisen viel und wohnen in einer Eigentumswohnung. Als Michele seinen Job verliert und das Ehepaar in finanzielle Schwierigkeiten gerät, steht auch die Beziehung der beiden bald auf wackeligen Beinen. Silvio Soldini beschreibt in seinem Drama auf einfühlsame Art den Zerfall einer Ehe. Die detailgetreue Beschreibung und die wenigen Handlungshöhepunkte erfordern viel Ausdauer und Aufmerksamkeit vom Zuschauer.
2024