Simone Mottura
Paolo Giordano
Die Welt aus Kinderaugen
Interview: Paolo Giordanos Erinnerungen
Mit "Die Einsamkeit der Primzahlen" gelang Paolo Giordano ein Bestseller-Erfolg. Der Roman wurde mit einem renommierten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet und kommt nun als Film in die Kinos. Wie geht man mit so viel Erfolg um? Man vergisst ihn einfach und konzentriert sich auf das nächste Projekt, so die Antwort des studierten Physikers in einem Interview mit Filmreporter.de. Außerdem sprach der Nachwuchsautor mit uns über seine Kindheit und verriet, warum Kinder nicht immer glücklich sind.
erschienen am 10. 08. 2011
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Die Einsamkeit der Primzahlen
Ricore: Sie haben einmal gesagt, in der Geschichte der "Einsamkeit der Primzahlen" kommt etwas von Ihnen persönlich vor. Was ist das?

Paolo Giordano: Ich glaube, dass jedes Erstlingswerk einen Teil dessen beinhaltet, was man schon gelebt und erlebt hat und was einen beschäftigt. Ich habe mich aber bemüht, einen Abstand zwischen mir und der Geschichte herzustellen. Ein Beispiel dafür ist die Erzählsprache in der dritten Person. Außerdem gibt es neben der männlichen Hauptfigur auch eine weibliche. All das sind Versuche gewesen, nicht über mich selbst zu sprechen.

Ricore: Sie haben also nichts mit den Figuren gemein?

Giordano: Tatsächlich ist nichts von dem, was im Buch passiert ist, mir zugestoßen. Trotzdem ist ein großer Teil der Geschichte biographisch: in der Art, wie sie erzählt wird, in den Beziehungen, die die Figuren leben. Es geht also gleichzeitig um mich und dann auch wiederum nicht.

Ricore: "Die Einsamkeit der Primzahlen" handelt von der Einsamkeit. Waren Sie schon mal einsam?

Giordano: Ich bin es noch. Der Titel des Romans spielt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffes Einsamkeit in der italienischen Sprache. "Solitudine" bedeutet einerseits Isolation. Das ist eine Sache, die man sich in der Regel nicht aussucht und die schmerzhaft ist und zu einem Problem werden kann. Dann gibt es noch eine Art der gesunden Einsamkeit, die mir sehr wichtig ist und die mir immer nah war. Ich habe beide Arten der Einsamkeit erlebt.

Ricore: Sind sie auch ein Außenseiter, wie ihre beiden Protagonisten Mattia und Alice?

Giordano: Ich habe mich nie als Außenseiter gesehen und war nie jemand, der von anderen ausgesondert wird. Aber ich hatte immer eine Leichtigkeit in meinen Beziehungen. Ich bin das, was man als introvertierte Person bezeichnen würde. Diese Eigenschaft habe ich in extremer Form auf meine Figuren übertragen. So bin ich auch mit anderen Motiven im Buch vorgegangen. Zum Beispiel mit der Essstörung von Alice. Ich selbst hatte zwar nie derartige Schwierigkeiten mit Essen und Ernährung, aber ich habe ein gespaltenes Verhältnis dazu. Das gilt auch für meine Einstellung zum Körper. Auch diesen Aspekt habe ich aus meinem Leben genommen und ihn ins Extreme übersteigert.
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Isabella Rossellini in "Die Einsamkeit der Primzahlen"
Ricore: Ihre Hauptfiguren leben in einer radikalen Abgeschiedenheit von der Gesellschaft, einer besonderen Einsamkeit. Gründet die Beschreibung dieses fast schon pathologischen Zustandes auf psychologischen Studien?

Giordano: Nein. Ihre Einsamkeit ist einfach eine extreme Form.

Ricore: Hatten Sie mit Ihrer Kindheit Schwierigkeiten? Die Wurzel aller Probleme bei Alice und Mattia liegt in der Kindheit und ihrer Beziehung zu den Eltern und Geschwistern.

Giordano: Nein. Ich hatte eine normale Kindheit. Wenn es so etwas wie eine glückliche Kindheit gibt, dann hatte ich sie. Zumindest gab es keine Traumata, wie ich sie im Buch beschreibe. Die Kindheit ist die schönste Zeit unseres Lebens. Aber ich kann mich daran erinnern, dass es in dieser Zeit eine unbestimmte Form des Schmerzes gab. Es war ein sehr eigenartiger Kindheitsschmerz, den ich empfand. Deshalb war nicht alles voller Glück und Sorglosigkeit. Darüber wollte ich schreiben, um mich damit auseinanderzusetzen.

Ricore: Sie waren als Kind nicht zufrieden mit sich selbst?

Giordano: Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, Kinder seien immer glücklich und wollen den ganzen Tag nur spielen. Der Schmerz eines Kindes ist wahr und kommt in jedermanns Leben vor. Aber das Faszinierende daran ist, dass es keinen Grund oder Auslöser hat. Er ist einfach nur da, rein und stark. Wenn man dann erwachsen wird, kann man immer mehr Gründe dafür finden, sich nicht glücklich zu fühlen.
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Alba Rohrwacher in "Die Einsamkeit der Primzahlen"
Ricore: Halten Sie es für richtig, von Kindern ein so hohes Maß an Verantwortung und Verständnis zu fordern, wie es von ihren beiden Protagonisten in ihrer Kindheit verlangt wird?

Giordano: Es ist sowohl richtig, als auch falsch. Kinder müssen Verantwortung lernen. Aber auf der anderen Seite darf man sie nicht zu sehr unter Druck setzen. Da ist der Grat sehr schmal. Das Beste, was Eltern tun können, ist nicht das Gefühl für ihre Kinder zu verlieren.

Ricore: Arbeiten Sie an einem zweiten Buch?

Giordano: Nein. Ich habe bei "Die Einsamkeit der Primzahlen" nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet. Ich erwartete nicht einmal, dass das Buch veröffentlicht wird. Als das dann doch geschehen war, hörten alle weiteren Ambitionen auf und ich fiel in einen Zustand der Überraschung.

Ricore: Was bedeuten Ihnen der 'Premio Strega' (italienischer Literaturpreis) und der wirtschaftliche Erfolg Ihres Romans.

Giordano: Auch das waren Dinge, die ich nicht zu hoffen wagte. Es ist ungewöhnlich, dass der Preis an einen so jungen Autor verliehen wird. Vielleicht war das damals auch alles viel zu viel. Ich war nicht bereit dafür und möglicherweise habe ich den Erfolg auch gar nicht verdient. Das Buch war schon vor dem Preis erfolgreich und erst recht, nachdem ich den Premio Strega verliehen bekam. Ich merkte, dass der Erfolg auch gefährlich sein kann. Schließlich habe ich schon mit jungen Jahren erreicht, was man sich in Italien nur erhoffen kann. Was soll ich jetzt noch machen? Warum überhaupt noch irgendetwas machen?

Ricore: Was haben Sie gemacht?

Giordano: Nach ein paar Monaten habe ich alles vergessen. Es ist, als ob das nicht mir, sondern jemand anderem passiert ist.
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Luca Marinelli in "Die Einsamkeit der Primzahlen"
Ricore: Waren Sie überrascht, als Sie hörten, dass Ihr Buch verfilmt werden soll?

Giordano: Am Anfang sagte jeder, mein Buch sei sehr kinematographisch. Das ist eine Beschreibung, die ich nicht mag und auch nicht verstehe. Wenn ein Buch als kinematographisch gilt, ist es besonders schwer zu verfilmen. Aber es stimmt, mein Roman ist sehr bildlich. Aber diese Bilder passen nicht ins Kino. Sie mussten erst entfernt und neue gefunden werden.

Ricore: Wie war es, gemeinsam mit dem Regisseur Saverio Costanzo am Drehbuch zu arbeiten?

Giordano: Saverio war von Anfang an derjenige, der entschied. Das war klar zwischen uns. Schließich war es sein Film und nicht meiner. Ich stand helfend zur Seite. Wir haben die Quintessenz aus der Geschichte herausgepresst, also die grundlegenden Fakten und Gefühle, und haben dann etwas Neues draus gemacht. Es war ein langer und schwieriger Prozess, jetzt hat man zwei unterschiedliche Werke vor sich. Dass der Film ein eigenständiges Werk werden sollte, war mir sehr wichtig.

Ricore: Wie war es, die Vision eines anderen über der eigenen Geschichte auf der Leinwand zu sehen?

Giordano: Das war ein sehr intensiver Moment. Ich konnte zum ersten Mal von meiner eigenen Geschichte berührt werden, weil ich einen Schritt beiseite getreten war und sie nicht kontrollierte. Es war, als würde ich zum ersten Mal mein eigenes Buch lesen.

Ricore: Schreiben Sie gerade an etwas?

Giordano: Ja, aber das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen.
Simone Mottura
Paolo Giordano
Ricore: Haben Sie je darüber nachgedacht, in die Wissenschaft zurück zu kehren?

Giordano: Nein. Ich habe die Wissenschaft vor einem Jahr verlassen. In irgendeiner Form werde ich wohl zu ihr zurückkehren. Jedoch nicht in die Forschung, wie ich sie vorher betrieben habe. Aber ich würde gerne darüber schreiben.

Ricore: Was ist Ihre professionelle Meinung als Teilchenphysiker zum Thema Atomenergie?

Giordano: Oje, das würde eine zu lange Antwort. Aber ich war wirklich überrascht von den Deutschen. Sogar ein bisschen schockiert.

Ricore: Aspekte ihrer Geschichte, wie die tiefe Einsamkeit der Protagonisten, erinnern an die Werke von Michel Houellebecq.

Giordano: Mir ist etwas Befremdliches mit Houellebecq passiert. Ich las "Elementarteilchen", während ich an meinem Buch schrieb. Plötzlich merkte ich, dass ich zu nah an dem dran war, was er schrieb. Ich musste die Lektüre abbrechen, weil ich mich ihm zu stark angenähert hatte. Trotzdem gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen meinem Buch und seinem: die Wissenschaft als Hintergrund oder zwei einsame Menschen als Protagonisten.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 10. August 2011
Zum Thema
Paolo Giordano wird 1982 in Turin geboren. Er studiert zunächst Physik, wendet sich dann aber der Literatur zu. Auch wenn Giordano die wissenschaftliche Laufbahn aufgegeben hat, ist die Wissenschaft in seinem Werk als Motiv präsent. So auch in seinem ersten Roman "Die Einsamkeit der Primzahlen", der nicht nur ein großer kommerzieller Erfolg, sondern 2008 auch mit dem renommierten italienischen Literaturpreis Saverio Costanzo verfilmt. Giordano wirkt bei der Adaption als Koautor am Drehbuch mit.
Alice (Alba Rohrwacher) ist als Kind bei einem Skiunfall schwer gestürzt. Seitdem ist das Verhältnis zur Familie und dem eigenen Körper gestört. Auch Mattia (Luca Marinelli) hat in seiner Kindheit ein traumatisches Erlebnis gehabt. Seit sich die beiden in der Schule begegnet sind, bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft. Ist ihr Verständnis füreinander ausreichend, um sich wirklich nahe zu kommen? Saverio Costanzo verfilmt mit "Die Einsamkeit der Primzahlen" das erste Buch des italienischen..
2024