Camino Filmverleih
Christoph Stark auf der Berlin-Premiere von "Tabu - Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden"
"Es geht nicht um Schönheit"
Interview: Arno Ortmairs & Christoph Starks Tabus
Spekulationen über eine inzestuöse Beziehung zwischen den Geschwistern Grete und Georg Trakl gibt es seit langem. Ursula Mauder entwickelte aus dieser Annahme ein Drehbuch, das Arno Ortmair faszinierte. Vor ihm waren mehrere Produzenten an der Verfilmung des Stoffes gescheitert. Mit Regisseur Christoph Stark gelang es Ortmair, einen realisierbaren Ansatz zu finden. Im Interview mit Filmreporter.de sprechen Ortmair und Stark über die Entstehung von "Tabu - Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" und die Universalität des Inzesttabus.
erschienen am 29. 05. 2012
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Tabu - Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden
Ricore Text: Das Projekt hat eine ziemlich lange Entstehungsgeschichte. Können Sie dazu etwas erzählen?

Arno Ortmair: Fünf Produzenten haben schon versucht, diesen Film zu realisieren. Ich bekam das Buch von Ursula Mauder und fand es spontan toll. Aber ich habe gemerkt, dass es ein schwieriges Buch ist. Ich wollte wissen, warum die anderen Produzenten es nicht auf die Reihe bekommen haben. Ich bekam sehr gemischte Reaktionen, als ich das Drehbuch herumgereicht habe. Es gab die Sorge, dass es ein schweres, verquastes Biopic wird. Um das zu vermeiden, habe ich einen frischen Ansatz gesucht, der in unsere Zeit passt. Auf der Suche nach jemandem, der das umsetzen kann, bin ich dann bei Christoph gelandet. Gemeinsam haben wir einen Ansatz gefunden.

Ricore: Woran sind die fünf Produzenten gescheitert?

Ortmair: Sie haben sich zu sehr auf das Historische eingelassen und sich einen Kostümfilm vorgestellt. Natürlich tendiert man dazu, bei so einem Stoff traditionell vorzugehen.

Ricore: Was macht das Thema aktuell?

Ortmair: Es gibt viele Beziehungen, die sein müssen aber nicht sein dürfen. Egal, ob es eine Geschwisterliebe oder nicht.

Christoph Stark: Ich muss meinem Produzenten da ein wenig widersprechen. Ich finde durchaus, dass man das Thema hätte historisch verfilmen können. Die Frage ist nur, ob die Leute da mitziehen. Milos Formans "Amadeus" macht das ganz ähnlich. Ich will da keinen Vergleich zur Qualität dieses Films ziehen. Aber er zeigt eine Beziehung, die es gegeben hat aber sicher nicht so, wie sie im Film dargestellt wird. Diese Eifersucht und Konkurrenz zwischen Mozart und Salieri hat Forman zum Aufhänger genommen und dramatisiert. So etwas Ähnliches macht dieser Film. Es gab diese Inzestbeziehung zwischen Georg und Grete Trakl, davon bin ich überzeugt.

Ricore: Woran machen Sie das fest?

Stark: Die Titelgestaltung hat eine Grafikdesignklasse übernommen, die von meiner Frau unterrichtet wird. Mit den Schülern haben wir über den Titel geredet. Ich wollte, dass der Film "In Schwesters Garten" heißt wie Trakls erstes Buch. Die meinten, das wäre total pornografisch, da könnte ich ihn gleich "In Schwesters Muschi" nennen. Der Titel ist also stark sexuell konnotiert. Warum sollte das damals anders gewesen sein? Warum nennt ein Dichter sein erstes Werk so? Warum heißt eines seiner berühmtesten Gedichte "Blutschuld"? Warum hat die Mutter nach Trakls Tod alle Briefe zwischen den Geschwistern vernichtet und sonst keine? Wichtig ist aber gar nicht, ob der Inzest stattgefunden hat oder nicht. Wichtig ist, dass sich Trakl Zeit seines Lebens daran abgearbeitet hat und unglaubliche Schuldgefühle hatte. Ob das seine Vorstellung war oder tatsächlich stattgefunden hat, ist für den Film nicht wesentlich. Ich bin froh, dass ich diesen Ansatz gefunden habe. Ohne die Ebene, in der es um Trakls Lyrik geht, hätte ich den Film nicht gemacht.
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Leidenschaftlich: Peri Baumeister und Lars Eidinger in "Tabu"
Ricore: Wie sind Sie mit Trakl in Berührung gekommen?

Stark: In der Schule.

Ricore: Hat Sie das sofort gepackt?

Stark: Nein, das nicht. Ich finde, Trakl kann einen gar nicht sofort packen. Das geht heute nicht mehr.

Ricore: Woran liegt das?

Stark: Man hört die Dinge nicht mehr. Wir sind so eine visuelle Zivilisation geworden, die keine Geduld und Ruhe mehr hat und vor allem nicht mehr diesen Zugang zur Natur, der wesentlich ist. In einer Kritik in Russland war die Rede von einem pittoresken Wasserfall, vor dem gedreht wurde. Da steckt eine Unterstellung drin, die totaler Schmarrn ist. Mir ging es doch nicht um ein pittoreskes Bild. Das muss man doch sehen, wenn man den Film anschaut. Das soll die Kraft des Wassers zeigen und die Schlucht zeigt die Kraft von Fels und Natur. In diesen Bildern geht es doch nicht um Schönheit.

Ortmair: Trakls Gedichte fand ich immer extrem schwer zu lesen. Als ich sie zum ersten Mal von Lars Eidinger und Peri Baumeister gehört habe, war das etwas ganz anderes.

Stark: Mir ist beim Lesen aufgefallen, dass ich den Film machen möchte, als ich bei der Szene mit Oskar Kokoschka war. Kokoschka erfährt, dass Grete Trakls Schwester ist und sagt zu ihm, dass er ein großartiger Dichter werde. Das Verhängnis ist, dass Trakl nicht mit der Schwester leben kann, nicht ohne sie schreiben und ohne Schreiben nicht leben kann.

Ricore: Wie kann es passieren, dass sich Geschwister in solch eine Liebschaft verwickeln?

Stark: Wir haben da viel recherchiert und mit einer Familientherapeutin gesprochen. Ich finde es wichtig, dass man von solchen Dingen eine Ahnung hat auch wenn man sie dann nicht ausspricht. Damit man in so etwas reinkommt, muss es immer schon eine sehr brutale Geschichte in der Familie vorher geben. Und die Gewalt ist meistens schon sexuell. Wer es genau war, das bekommt man nicht mehr heraus. Vermutlich war es der Vater, der die Kinder sexuell missbraucht hat. Trakl hat mit fünf Jahren seinen ersten Selbstmordversuch gemacht. Damit ein fünfjähriges Kind diese Energie entwickelt, muss etwas unglaublich Brutales passiert sein.
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Sehnsuchtsvoll: Peri Baumeister in "Tabu"
Ricore: Für die Figuren spielt Religion keine große Rolle, was die Schuldgefühle angeht.

Stark: Ich glaube nicht, dass das Inzest-Tabu eine religiöse Unterfütterung braucht. Eher andersrum. Die Religion setzt sich auf eine Notwendigkeit drauf und instrumentalisiert sie, um Menschen zu unterdrücken. Ich kann Menschen nicht verbieten, sexuell aktiv zu werden. Man sollte es nicht tun zwischen Bruder und Schwester, das ist klar. Das Inzest-Verbot ist universell und ist nicht nur auf genetischer Ebene sinnvoll. Freud sagt, das Inzest-Verbot sei die Grundvoraussetzung für Kultur. Das finde ich interessant. Deshalb ist es eine unverrückbare Grenze. Es gibt ein paar Projekte, auch dies noch aufzuweichen. Aber ich glaube, das geht nicht. Selbst Bonobos akzeptieren das. Die sind sexuell sehr aktiv aber Bruder und Schwester, Vater und Kinder, das geht nicht. Weil es scheinbar die Psyche zerstört.

Ortmair: Das ist ja auch ein ganz großer Schutz.

Stark: Wenn ich meine Kinder sehe, dann ist Vertrauen das Essenziellste, was die beiden brauchen. Absolute Sicherheit. Und zu dieser Sicherheit gehört die Unverletzlichkeit ihres körperlichen und seelischen Intimbereichs. Seit einem Jahr schafft sich meine ältere Tochter ihren Intimbereich. Da ist dann plötzlich die Tür zu. Das zu brechen, ist Gewalt. Wahrscheinlich die allerschlimmste Form der Gewalt.

Ortmair: Das Wort 'schutzbefohlen' ist da ganz wichtig. Wäre dieses Gefühl nicht vorhanden, wären wir latent der Gefahr ausgesetzt, vor unseren Eltern nicht sicher zu sein.

Stark: Man macht sich ständig Gedanken darüber. Diese Verletzlichkeit gibt es auch beim Dreh ständig. Da sind viele komische Sachen passiert. Beim Dreh der großen Beischlafszene am Schluss kam eine neue Video-Operaterin dazu. Die meinte, dass die Szene toll aussähe. Als sie hörte, dass das Bruder und Schwester sind, ist sie rausgerannt und hat gekotzt. Das heißt, das löst etwas Unglaubliches aus. Ich hoffe aber, dass der Film nicht nur in diese Richtung besprochen wird.

Ricore: Die Tatsache, dass es eine Inzestbeziehung ist, macht die Verstrickung aber erst pikant.

Stark: Ja, das ist eine sehr ungesunde Verstrickung und das ist auch der zentrale Konflikt. Aber ich glaub, man sieht dem Film an, dass da kein Thrill draus gezogen und das ganze softpornografisch aufgearbeitet wird. Das hat auch ein Kritiker geschrieben und das finde ich verletzend. Ich kann diesen Intimbereich nicht aussparen.

Ortmair: Was mich an dem Buch gepackt hat, war die Geschwisterliebe. Diese Liebe entsteht sehr früh. Solange es Kinder sind, ist das gut und wird gefördert. Die Tragik liegt darin, dass sie erwachsen werden und das plötzlich falsch ist. Man kann keinen größeren Widerstand für eine Liebe haben als das, was sein soll, plötzlich nicht mehr sein darf. Dass das in Trakls Gedichten angelegt ist, ist noch toller. Ich finde es wichtig, dass auch die Liebesszenen so ehrlich und ungeschönt gedreht sind.

Ricore: Die Szene mit dem Streit in der Gasse ist irritierend. Als Grete sich erbricht und es kurz so aussieht, als sei sie schwanger.

Stark: Ich habe beim Dreh gesagt, wir sollten es weglassen. Die anderen meinten, wir sollen es drin lassen, wegschneiden könne man immer. Im Schnitt hat mir das dann plötzlich gefallen. Das hat den Film spannender gemacht.

Ortmair: Ich habe das ganz anders interpretiert. Ich habe es einfach so empfunden, dass sie etwas so Zerstörerisches gesagt bekommt, dass sie nur kotzen kann.

Stark: So ist es auch geschrieben. Ich habe die Autorin mal gefragt. Aber das funktioniert gar nicht. Wenn eine Frau im Film kotzt, dann weiß zumindest jede andere Frau, dass sie schwanger ist.
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Peri Baumeister in "Tabu - Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden"
Ricore: Warum kann sich Grete nicht vom Bruder lösen?

Stark: Keine Ahnung. Das kann und möchte ich auch gar nicht beantworten. Das ist nicht wichtig. Grete war erst 17. Aus dramaturgischen Gründen setzt sie die Hauptfigur unter Druck.

Ortmair: Für mich hat sich die Frage nie gestellt. Das sind zwei Geschwister und die sind zusammengewachsen. Ich habe immer gespürt, dass da etwas gewachsen ist, was sich nicht mehr lösen lässt.

Stark: Familientherapeutisch ist es sogar so, dass eigentlich die Mutter und der Sohn eine sexuelle Beziehung haben. Wahrscheinlich sagt der Sohn: lieber nehme ich die Schwester weil mit der Mutter das wäre zu krass.

Ricore: Welche Rolle spielt der Expressionismus für die Figuren?

Stark: Das mussten wir aus vielen Gründen weglassen. Man weiß nicht, wie wichtig der Expressionismus für Trakl war. Er kannte Kokoschka gut aber wie weit dabei über Kunst gesprochen wurde, ist unbekannt. Diese völlig verkrustete Gesellschaft brauchte sowohl die Kunst, die das aufgebrochen hat, als auch die Gewalt. Da hat sich etwas Bahn gebrochen. In der Kunst geht es auch darum, Grenzen zu brechen und dazu braucht es immer einen Irren.

Ricore: Wie sind Sie auf Peri Baumeister gekommen?

Stark: Wir haben ewig gecastet, weil viele namhafte Schauspielerinnen nicht wollten.

Ortmair: Wobei uns keine von denen, die nicht wollten, überzeugt hatte. Als wir schon glaubten dass wir keinen mehr finden kam die Schauspielschülerin Peri Baumeister zum Casting. Sie hat sofort mit Lars Eidinger harmoniert, und hat gepasst.

Ricore: Wen haben Sie sich denn ursprünglich vorgestellt?

Stark: Wir wollten eine Zeitlang Hannah Herzsprung. Und sie hat - im Rückblick Gottseidank - abgesagt. Sie hatte wohl den richtigen Instinkt und gemerkt, dass sie zu alt ist. Peri bringt eine gewisse Unschuld und Unerfahrenheit mit. Das ist unbezahlbar.

Ricore: Braucht man für so etwas Theaterschauspieler, die sich sowieso mit Lyrik auseinandersetzen?

Stark: Besser ist das auf jeden Fall. Ich sage das allen Filmschauspielern. Ich habe viele Junge gesehen, denen ich immer gesagt habe: bleib beim Theater, sonst wirst du irgendwann flach.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 29. Mai 2012
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Der 1965 in Esslingen geborene Christoph Stark studiert an der Julietta" (2011) erhält er bei den Tabu - Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" läuft beim Tatort" und "Bloch" unter Beweis.
"Tabu - Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" handelt von der angeblichen inzestuösen Beziehung zwischen dem österreichischen Dichter Georg Trakl (Lars Eidinger) und seiner Schwester Margarethe (Peri Baumeister). Das Drama erzählt, wie der Künstler und die selbstbewusste Klavierspielerin zwischen Liebe und gesellschaftlichem Druck aufgerieben werden. Vorzüglich fotografiert, überzeugt der Film auch durch das gelungene Spiel seiner beiden Hauptdarsteller.
2024