Leo Hiemer
Regiesseur, Autor, Produzent und Filmverleiher Leo Hiemer
Liebe jenseits des gewohnten
Interview: Träumen erlaubt?
Leo Hiemer ("Daheim sterben die Leut'") ist einer der ganz wenigen Filmemacher, die es schaffen, ohne Unterstützung von größeren Produktionsfirmen und Verleihern anspruchsvolle Filme zu drehen. Die geringeren Mittel bringen dem Allgäuer eine größere Freiheit, die es ihm erlaubt, auch schwierigere Themen anzugehen. Das gilt auch für seinen letzten Film. Ohne Sensationslust oder Effekthascherei schildert "Komm, wir träumen!" die Liebesgeschichte zwischen dem Zivi Eckart (Julian Hackenberg) und der behinderten Ulrike (Anna Brüggemann). Das nach Volker Jehles Roman "Ulrike" entstandene Drama wurde in einer Behindertenwerkstatt gedreht.
erschienen am 23. 10. 2005
Leo Hiemer
Leo Hiemer beim Interview mit Ricore Text
Ricore: Was hat Sie am Roman von Volker Jehle so fasziniert?

Hiemer: Das ist einfach eine tolle Geschichte, die viel über Liebe und Partnerschaft erzählt. Da labern die Leute nicht ständig, weil sie nichts mit sich anzufangen wissen und die Frauen müssen keine Pistolen mit sich herumtragen, damit überhaupt was abgeht. Es ist eine ganz unspektakuläre Geschichte, die in einer Behindertenwerkstatt spielt. Natürlich gab es ganz tolle Anregungen, um das Ganze gefälliger zu machen. Meistens waren es Redakteursideen, muss ich dazu sagen. Die meinten: Die zwei müssen am Ende heiraten, eine schöne Hochzeit feiern und in der Behindertenwerkstatt zusammen glücklich leben. In der Pro-Sieben-Version würden sie herausfinden, dass die Protagonistin vom Wärter ständig vergewaltigt wurde, worauf dieser bei Nacht und Nebel umgebracht wird und so weiter. Dazu kann ich nur eins sagen: Das sind alles Geschichten, die mich nicht interessieren. Mich fasziniert die ganz einfache und völlig unentschlüsselbare Geschichte, dass zwei Menschen, die nicht füreinander geschaffen sind, sich ineinander verlieben.

Ricore: Ist für Sie eine Beziehung zwischen einem behinderten und einem so genannten normalen Menschen ausgeschlossen?

Hiemer: Bei der Recherche zum Film haben wir von vielen Geschichten zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten gehört. Manche haben sogar geheiratet. Es ging zum Teil so weit, dass der nicht behinderte Teil die Behinderung seines Partners vollkommen geleugnet hat mit dem Argument, diese sei sozial angedichtet. Aber es gab keine Geschichte, die länger gehalten hätte. Nach etwa einem Jahr sind die meisten auseinander gegangen.

Ricore: Liegt das an unserer Gesellschaft?

Hiemer: Auf einer einsamen Insel wären Eckart und Ulrike ein Paar geworden, hat zu mir mein Freund Klaus Kugel gesagt. Dem kann ich nichts hinzufügen. Das ist lakonisch, aber es ist so.

Ricore: Sie haben in Behindertenwerkstätten gedreht. Wie war das?

Hiemer: Für mich war das etwas ganz Neues. Ich war verunsichert und fragte mich: Was kommt da auf mich zu? Was wollen die von mir? Gerate ich jetzt in peinliche Situationen? Werde ich auf eine Art angesprochen, bei der ich nicht weiß, wie ich reagieren soll? Werde ich sogar angegriffen? Es geht einem alles Mögliche durch den Kopf. Es ist wie wenn man in den Knast oder in die Sterbestation eines Hospizes geht. Das sind Bereiche, die in unserer Gesellschaft abgeschottet sind. Na ja, ich ging also hin und wurde zu meiner Überraschung außerordentlich freundlich und warmherzig aufgenommen. Die ließen alles stehen und liegen. Ich wurde 1.000 Mal geherzt und gegrüßt und zwar nicht wie in München auf der Party, sondern richtig! Manchmal dacht ich mir: Das ist noch die letzte Ecke in dieser Gesellschaft, in der es ehrlich zugeht.
Leo Hiemer Filmverleih
Hauptdarstellerin Anna Brüggemann in "Komm, wir träumen!"
Ricore: Wie verliefen die Dreharbeiten?

Hiemer: Man braucht natürlich mehr Zeit und Einfühlungsvermögen. Es geht nicht so einfach: Schauspieler, jetzt nach links, jetzt nach rechts, zack, bum, Action...! So einfach ist es nicht. Aber genau das ist die Herausforderung für mich und das Team. So wie ich, waren viele verunsichert: Kann man da ein Kabel ziehen? Kann ich jemanden um etwas bitten? Aber nach 14 Tagen funktionierte die Zusammenarbeit wunderbar. Frau Krämer, die Betreuerin, hat es so formuliert: "Am Anfang waren sie für euch Behinderte und jetzt, am Ende der Dreharbeiten, sind es für euch Menschen." Menschen wie du und ich. Jeder hat seine Behinderung, jeder seine Probleme. Ich will im Film natürlich nicht sagen, dass Behinderte die besseren Menschen sind. Das ist ja auch so eine Mode. Die Behinderten, die wir heute im Kino sehen, sind ja immer ganz toll. Ein Millionen-Dollar-Mann, ein Superhirn, ein Wahnsinnssensibler, der mit den Außerirdischen kann oder was weiß ich. Das ist aber gar nicht so. Die sind genauso bescheuert wie du und ich. Es geht bei ihnen aber nicht so verdruckst und hinterfotzig zu wie bei uns.

Ricore: Haben die Behinderten, mit denen Sie gearbeitet haben, den Film gesehen?

Hiemer: Ja und sie haben sich wahnsinnig amüsiert. Es gab letztes Jahr eine Preview in Türkheim in der Nähe der Behindertenwerkstätte. Die ganze Werkstatt war da. Es war für alle eine riesige Freude, sich und ihre Freunde auf der Leinwand zu sehen. Das war Klasse.

Ricore: Sie schreiben, Sie drehen, Sie produzieren und Sie bringen Ihre Filme heraus. Wie funktioniert das?

Hiemer: Es funktioniert eigentlich nicht, trotzdem muss es irgendwie gehen. Es ist auch keine Entscheidung von mir. Es hat sich einfach so ergeben. Wenn ich einen Redakteur hätte, der mich unterstützen würde, hätte ich in den letzten zehn Jahren wohl schon zehn Fernsehfilme gedreht. Wenn du auf ein Abstellgleis gerätst, musst du dir eben was einfallen lassen.

Ricore: Hat das vielleicht auch mit Ihrer Herkunft was zu tun? Allgäuern wird ja nachgesagt, etwas eigensinnig zu sein.

Hiemer: Allgäuer sind Leute, die davon träumen, auf anderthalb Quadratmeter autark zu sein. Das ist mal so. Das drückst du aus den Leuten nicht raus. Sie wollen ihr eigener Herr sein. Sie können es einfach nicht vertragen, wenn sie irgendwelche Heinis über sich haben, die ihnen anschaffen wollen, wie es zu gehen hat. Da spricht schon einiges gegen eine Mitarbeit in einem größeren Medien- oder Produktionsbetrieb. Aber man entwickelt sich zum Glück weiter. Ich hab ja auch schon für Serien gearbeitet.
Leo Hiemer
"Ein großes Privileg"
Ricore: Seine eigenen Filme zu drehen, ist das nicht ein Privileg?

Hiemer: Eine eigene Idee zu haben und zu wissen, dass auch wenn der gescheiteste Redakteur der Welt dir sagt, dass funktioniert nicht, du immer noch sagen kannst: Ich beweis dir, auch wenn es sieben Jahre dauert, kommt der Film ins Kino und die Leute schauen ihn sich an und haben was davon. Das ist ein großes Privileg.

Ricore: Man hat vielleicht nicht die Mittel aber dafür eine größere Freiheit.

Hiemer: Pass auf! Wir haben uns auf der Tonebene sehr viel Mühe gegeben. Ich muss dazu sagen, dass ich ein absoluter Tonfetischist bin. Die Leute im Tonstudio haben gemeint: So viel Zeit und so intensive Arbeitet können wir kaum für ein Großprojekt aufwenden. Bei einem normalen Projekt ist in der Regel in zwei Tagen alles synchronisiert und Schluss. Dann habe ich ihnen gesagt: Leute, betrachtet es als Privileg. Ich kann euch sowieso nicht zahlen, also ist es egal, wie lange wir dran arbeiten. Das machen wir alles nur aus Muße. Am Ende sagte alle: Endlich mal ein Regisseur, der wirklich Wert auf den Ton legt. Das ist auch ein Privileg. Es gibt zum Glück auch immer wieder Nischen, aber die zu finden, ist sehr mühsam.

Ricore: Wie schaffen Sie es unter diesen Bedingungen, Familie und Filmemachen zu verbinden?

Hiemer: Das ist eine interessante Frage. Wer fragt denn heute so was überhaupt? Es heißt ja normalerweise: Wer einen Beruf hat, hat kein Privatleben. Also ich hab Familie, meine Frau ist voll berufstätig und wir haben zwei Kinder. Wir sind gut beschäftigt.

Ricore: Und das geht?

Hiemer: Nein, es geht nicht. Wir haben oft gesagt: Dieser ganze Spagat, das funktioniert nicht und trotzdem leben wir damit. Du musst dafür eine lateinamerikanische Einstellung entwickeln. Mit einer preußischen Einstellung schaffst du es nicht.
Leo Hiemer
Hiemer hat wenig Geld für seine Filme, dafür viel Freiheiten
Ricore: Sie wohnen nicht in einer Medienstadt wie München, Hamburg oder Berlin. Das ist für einen Filmemacher ungewöhnlich.

Hiemer: Ich fühl mich in den Kleinstädten viel wohler. Wenn man mich in München braucht, bin ich schnell da. Ich kann ja jeder Zeit nach Berlin fliegen, wenn's sein muss. Außerdem sind wir heute alle vernetzt. Was soll das Ganze also? Es kommt noch hinzu, dass ich in Kaufbeuren die Natur vor der Nase habe und die brauche ich, um zu leben.

Ricore: Welche Aufgabe hat für Sie das Kino heute?

Hiemer: Für mich soll das Kino die Chance bieten, etwas zu erfahren. Leider sehe ich heute nur noch nackige Weiber und Pistolen. Überall nur inhaltsleerer Zerstörungswahn. Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Das macht mich aggressiv. Das alles hat mit dem Leben nichts zu tun. Das sind alles Manöver, um die Leute von ihren ganz bescheidenen Problemen abzulenken. Meine Frau sagt immer, das Leben findet im Wohnzimmer statt. Das Kino gaukelt heute einem aber vor, dass das Leben wer weiß wo stattfindet.

Ricore: Was würden Sie einem jungen Filmemacher heute raten?

Hiemer: Sehr schwere Frage. Man muss an sich glauben und den Mut haben, nein zu sagen. Für einen Jungfilmer ist es heute unglaublich schwer, sich überhaupt zu positionieren. Du musst ja gleich einen genialen Film hinlegen, mindestens so genial wie Ingmar Bergman sein. Nur hat Bergman zwölf Filme gedreht, bevor der erste auf dem Markt ankam. Die Chance hat man heute nicht. Letztlich hat einer von der Bavaria, der jetzt nicht mehr im Amt ist, behauptet: Wenn ein Film keine 100.000 Zuschauer einspielt, kann man gleich zum Strick greifen. Also das mit dem Strick habe ich jetzt nicht weiter verfolgt. Das gelingt einfach nicht bei jedem Film und schon gar nicht, wenn man nicht eine große Produktionsfirma oder einen Verleih hinter sich hat. Also, den Mut nicht verlieren!

Ricore: Herr Hiemer, vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 23. Oktober 2005
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Leo Hiemer ("Daheim sterben die Leut'") ist einer der ganz wenigen Filmemacher, die es schaffen, ohne Unterstützung von größeren Produktionsfirmen und Verleihern anspruchsvolle Filme zu drehen. Die geringeren Mittel bringen dem Allgäuer eine größere Freiheit, die es ihm erlaubt, auch schwierigere Themen anzugehen.
Leo Hiemer ("Daheim sterben die Leut'") ist einer der ganz wenigen Filmemacher, die es schaffen, ohne Unterstützung von größeren Produktionsfirmen und Verleihern anspruchsvolle Themen filmisch umzusetzen. Die Nachteile des geringeren Budgets kompensiert der Allgäuer mit der künstlerischen Freiheit, die es ihm erlaubt, sich seine Themen auszuwählen. Das gilt auch für "Komm, wir träumen!". Ohne Sensationslust oder Effekthascherei schildert der Film die Liebesgeschichte des Zivildienstleistenden..
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