Die Unschuld

Zum ersten Mal seit Mitte der 1990er Jahre verfilmte Hirokazu Koreeda ein Drehbuch, das nicht aus seiner eigenen Feder stammt. Für die exzellente Vorlage gibt es bei den Filmfestspielen von Cannes 2023 verdient den Drehbuchpreis. Sie führt den Zuschauer nicht nur auf eine falsche Fährte, in dem es einen Brand in der Nachbarschaft von Saori und Minato an den Anfang der Handlung stellt und immer wieder darauf zurückkommt.

Bei der Schilderung der subjektiven Sicht von drei Menschen auf die gleichen Ereignisse ändern sich nur Nuancen. Was für den einen wichtig ist, hat der andere offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen, auch weil er den Kontext nicht kennt.

Sehr präzise beschreibt das komplexe Drama die Missverständnisse, die zur Fehleinschätzung der Situation bei den Erwachsenen führen. Die Vorurteile gegenüber alleinstehenden Frauen auf der einen Seite, der dadurch entstehende Druck auf der anderen Seite, von dem sich das Kind natürlich erdrückt fühlt. Die Rolle von Lehrern als Prellbock zwischen den hohen Erwartungen an die Schule, eigenen Ansprüchen und dem, was sie ausrichten können. Und nicht zuletzt sind es die Konflikte zwischen Schülern in einem Alter, in dem sie die eigene Sexualität entdecken.

Über all dem schwebt in der ansonsten universellen Geschichte die in der japanischen Gesellschaft tief verankerte Angst, das Gesicht zu verlieren. Im Kern seines Films bleibt der japanische Meisterregisseur seinem Lieblingsthema treu, dem präzisen Ausloten von Familienbanden in einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne.