September
Färberböck erkundet Gefühlswelt nach dem 11. September
Feature: Große Verwirrung am Tag danach
Die Welt ist aus den Fugen geraten. Nichts wird mehr sein wie zuvor. In den Tagen nach den Anschlägen vom 11. September waren diese Sätze oft zu hören. Regisseur Max Färberböck (Aimee und Jaguar) greift in "September" diese auf, spielt mit ihnen und entlarvt sie als irrig. "In einem Jahr ist alles wieder so, wie es war", schreit der Vermögensberater Philipp Scholz (Justus von Dohnanyi) seine depressive Frau in einer der bewegendsten Szenen des Films an. Dabei ist er von allen Figuren am engsten mit dem Unglück verbunden, mehrere seiner Kollegen arbeiteten im World Trade Center. Den-noch ist er überzeugt, dass sich: "nichts ändert". Eine Beobachtung, die auch in Bezug auf das Kino Gültigkeit hat.
erschienen am 22. 06. 2003
Szene aus: September
Zunächst wurde das Ende der Spaßgesellschaft proklamiert: Eine Tragödie, wie Hollywood sie sich nie hätte träumen lassen, habe stattgefunden. Brav wurden in "Spider-Man" die Zwillingstürme digital wegretuschiert, um den Amerikanern und dem Rest der Welt die Phantomschmerzen zu ersparen. Filme wie "Der Anschlag", in welchem Terroristen in den USA eine Atombombe zünden, oder "Collateral Damage" mit Arnold Schwarzenegger als Terroristenjäger wurden umgeschnitten, die Starttermine verschoben. Bis man im Frühjahr 2002 wieder glaubte, dem Publikum das Katastrophenkino zumuten zu können. Und so haben in Deutschland mittlerweile mehr als eine Million Zuschauer den Anschlag gesehen. Man fragt sich, wie lange es dauern wird, bis der 11. September in Form eines Blockbusters "verarbeitet" werden wird. Nach dem ersten Attentat auf das World Trade Center 1993 dauerte es nur vier Jahre, bis der US-Fernsehsender HBO 1997 den Spielfilm "Path to Paradise: The Untold Story of the Word Trade Center Bombing" produzierte.
Hollywood ist momentan allerdings mit anderen Dingen beschäftigt - zum Beispiel mit der Fließbandproduktion lukrativer Sequels: Knapp 20 Filme, darunter potentielle Blockbuster wie "3 Engel für Charlie - Volle Power" und "Terminator 3 - Rebellion der Maschine" starten diesen Sommer. So stammen die ersten Geschichten, die uns das Kino über den 11. September zu erzählen weiß, überwiegend aus Europa. Schon 2002 entstand im Auftrag des französischen Produzenten Alain Brigand die Gemeinschaftsarbeit "11'09''11 - September 11". Elf Regisseure, darunter Ken Loach, Sean Penn und Samira Makhmalbaf, widmeten sich nachdenklich bis kritisch dem heiklen Thema - leider fast ohne Publikumsbeachtung. Färberböcks "September", einer der zwei deutschen Beiträge beim diesjährigen Filmfestival in Cannes, will dagegen nicht politisch Stellung beziehen, sondern lediglich die Gefühlswelt der Menschen in Deutschland erkunden.
Szene aus: September
Auslöser war für den Regisseur die Unterhaltung mit einem Bekannten, für den der 11. September Anlass war, einen Rettungsversuch für seine scheiternde Ehe zu unternehmen. Färberböck hat daraufhin mit fünf weiteren Autoren die rudimentären Geschichten entwickelt, die "September" erzählt. Er habe nicht gewollt, dass die Autoren das Kino reflektierten, erklärt der Regisseur. "Nur den 11. September, sich selbst und die Zeit danach." Die große Verwirrung, die die Terrorakte bei ihm und seinen Bekannten ausgelöst haben, will Färberböck vielmehr endlich aufarbeiten.
Szene aus: September
Personalisiert wird diese Verwirrung in der Figur der Julia Scholz (Catharina Schuchmann, hervorragend in ihrem Leinwanddebüt), der Gattin des Vermögensberaters. Ihre Ehe droht zu zerbrechen, und die zusätzliche Last der Ereignisse stürzt sie immer tiefer in die Orientierungslosigkeit. Am Ende öffnet sich in der Reaktion auf die Anschläge vielleicht doch die Chance zu einem Neuanfang. In einer anderen der vier abwechselnd betrachteten Episoden entfremdet sich die schwangere Lena (Nina Proll) immer mehr von ihrem pakistanischen Freund, dem Pizzabäcker Ashraf, weil dieser auf die Anschläge verdächtig unemotional reagiert. Dann ist da der Journalist Felix (gespielt von Moritz Rinke, der selbst am Drehbuch mitschrieb), der die Ereignisse selbstdarstellerisch im hochtrabenden Leitartikel einer Zeitung verarbeiten will und deshalb seine Freundin tagelang ignoriert. Und der vereinsamte Polizist Helmer (Jörg Schüttauf), der glaubt, das vermeintliche Leid eines amerikanischen Kollegen lindern zu müssen, ihm gut zuspricht und ihn ins Museum einlädt. Dabei hätte er eigentlich selbst Unterstützung nötig, weil auch seine Familie vor der Auflösung steht.
Szene aus: September
Färberböck spielt in "September" mit Fiktion und Realität. Am Anfang lauschen wir dem Fluglotsen der American Airlines 11 von Boston nach Los Angeles, bis der Kontakt zum Piloten abbricht. Natürlich bekommen wir die allseits bekannten Fernsehbilder des Schreckens zu sehen - grobgerastert wirken sie auf der Kinoleinwand. Damit kein Dokumentarfilm-Charakter aufkommt, hat der Regisseur die Bilder in eine Nachrichtensendung des fiktiven TV-Kanals NF2 eingebaut. In Form multipler Split-Screens werden die Realbilder mit den Schicksalen der Filmfiguren verknüpft. Mit einer penetranten Häufung von langen Blenden gleitet der Film von einem Erzählstrang zum anderen, immer wieder getragen vom bedrohlich dröhnenden Lärm von (Flugzeug-) Motoren. Auf ein konventionelles dramaturgisches Konzept verzichtet Färberböck bewusst, will die Verwirrung auf die Spitze treiben und auf den Zuschauer übertragen. Sein Film stimmt nachdenklich und enthält bewegende Momente, untergräbt sie aber teilweise durch die irritierende visuelle Aufbereitung.
Szene aus: September
Kurzfristig löst der 11. September bei den Protagonisten emotionale Schwankungen aus und verändert ihren Alltag. Wenn mehrere Araber in Slow Motion vermeintlich bedrohlich auf Julia zugehen und dann doch ganz harmlos an ihr vorüberschreiten, legt Färberböck den Irrwitz der neuen Verhältnisse offen. Doch eigentlich sind die direkten Auswirkungen auf das Leben der Charaktere - von der Eherettung abgesehen - eher banal: Ashraf freut sich, dass sein Pizza-Service floriert, weil die Menschen vor dem Fernseher sitzen und sich das Essen liefern lassen. Für Felix scheint es kaum einen Unterschied zu machen, ob er wie bisher in pseudo-intellektuellen Artikeln die Gentechnik oder nun plötzlich den Terror analysieren soll. Da mag die Weltpolitik noch so sehr betroffen sein - in emotionaler Hinsicht bleibt in Deutschland langfristig alles beim Alten. Das gilt auch für das internationale Kino. Die Atempause, so es denn eine gab, war kurz. Ob ein Film wie "September" in den USA zu sehen sein wird? "11'09''11 - September 11" wartet jedenfalls immer noch auf einen US-Verleih, der sich seiner annimmt.
erschienen am 22. Juni 2003
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