Neue Visionen Filmverleih
Regisseur Ulrich Seidl ("Paradies: Liebe")
Das Wetter spielt nicht mit
Interview: Ulrich Seidl zu "Rimini"
Ulrich Seidl dreht "Rimini" über mehrere Jahre, weil das Wetter in Italien nicht mitspielt. Im Zentrum des Films steht Gigolo Richie Bravo (Michael Thomas), der Senioren charmant mit Schlagern der 1960er Jahren die Tristesse des Ortes vertreibt. Seine weiblichen Fans kommen regelmäßig an die Adriaküste. Nun ist auch seine Tochter gekommen. Er kennt sie kaum. Tessa (Tessa Göttlicher) freundet sich bald mit den Afrikanern an, die am Strand Schutz vor Regen und Kälte suchen. "Rimini" ist der erste Teil eines Projektes um zwei Brüder. "Sparta" feiert parallel zu diesem Kinostart beim Filmfest in Hamburg Premiere.
erschienen am 12. 10. 2022
Neue Visionen Filmverleih
Rimini (2022)
Realist mit Neigung zum Pessimismus
Ricore Text: Sind sie Pessimist?

Ulrich Seidl: Ich bin Realist und neige zum Pessimismus. Ich rede mir die Dinge nicht schön, und wenn ich mir die Welt anschaue, fällt es schwer, Optimismus auszustrahlen.

Ricore Text: Ist Ihr Film als Abgesang auf das alte Europa ihrer Generation zu verstehen?

Ulrich Seidl: Es fällt mir schwer, einen Film auf eine Schlagzeile zu reduzieren. Er ist facettenreich und ein Angebot an die Zuschauer. Sicher werden ihn einige so interpretieren wie Sie.

Ricore Text: Alleine die Wahl des Ortes lässt dies vermuten, der in Ihrer Kindheit einer der großen Sehnsuchtsorte war.

Ulrich Seidl: Er bedient noch heute für viele Menschen die gleichen Sehnsüchte von Sonne und Meer wie der Schlager. Wenn Menschen solche Orte mögen, sollen sie dort ihren Urlaub verbringen. Mich schrecken die überfüllten Strände im Sommer ab. Ich liebe dagegen die Melancholie, die das Meer und der in Nebel getauchte Ort im Winter ausstrahlen. Dann werden ebenso wie im Alpintourismus mit dem Ende der Saison Wunden in der Landschaft sichtbar, die der Tourismus gerissen hat. Der Mensch zerstört, was er sucht.

Ricore Text: Dann lag es nahe, einen Sänger ins Zentrum zu stellen, der die Sehnsucht nach einer heilen Welt bedient?

Ulrich Seidl: Ich erzähle meist von gebrochenen Menschen und blicke gerne hinter die Fassade des angehimmelten Helden. Er steht strahlend auf der Bühne, aber sein Leben ist aus den Fugen geraten. Er lebt über seine Verhältnisse, ist dem Alkohol, der Spielsucht und den Frauen verfallen. Seine Zeit ist vorbei, er lebt nur von der Vergangenheit. Zugleich interpretiert er seine Schlager so ehrlich, dass man ihm glaubt, dass er so fühlt. Wenn ihm das nicht gelänge, wäre er eine Karikatur.

Ricore Text: Er hat ein gutes Gefühl für die Stimmung im Publikum?

Ulrich Seidl: Es ist halt wie ich ein Charmeur der alten Schule. Nur, der Gentleman, der einer Frau in den Mantel hilft oder ihr die Tür aufhält, ist nicht mehr gefragt. Wir sterben aus, die jungen Männer interessiert es nicht mehr. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist ja auch grundlegend anders geworden.
Ulrich Seidl Filmproduktion
Michael Thomas in "Rimini" (2022)
Auch in Österreich wird es härter
Ricore Text: Ist das gestörte Verhältnis zu seiner Tochter Ausdruck des Scheiterns der Familien-Utopien der 1968er Revolution?

Ulrich Seidl: Das stimmt sicher. Das Schicksal seiner Tochter lässt ihn nicht kalt. Er hat nur nie gelernt, dies auszudrücken. Er hofft, dass ihm verziehen wird. Dazu gehören aber immer beide Seiten.

Ricore Text: Zugleich tritt er gegen die Migranten, die noch schwächer sind?

Ulrich Seidl: Soweit würde ich nicht gehen. Er ist nicht arrogant. Er nimmt diese Menschen einfach nicht wahr. Damit ist er Teil der Gesellschaft. Als die ersten Gastarbeiter kamen, wollten wir, dass die Arbeit gemacht wird und interessierten uns nicht für die Menschen. Das hat sich nicht verändert.

Ricore Text: Hat Europa denn Platz für alle, wie Sie es suggerieren?

Ulrich Seidl: So ist das Bild gemeint, aber es entspricht nicht der Realität. Viele Menschen haben Angst vor einer Überforderung, weil der eine Gast Familie und Freunde mitbringen könnte. Also sprechen sie lieber gar keine Einladung aus.

Ricore Text: Ihr Schlussbild könnte auch zu einer Vorlage für die Falschen werden, wenn keiner der Migranten arbeitet?

Ulrich Seidl: Natürlich, die Dinge sind ja nicht so einfach. Aber sollten wir als Künstler angstvoll aufhören, unsere Sicht zu zeigen? Geflüchtete versuchen genau wie wir, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Aber die Männer, die an Italiens Stränden frieren, können nichts erreichen, wenn wir ihnen keine Chance geben.
Al!ve
Ulrich Seidl Edition
Rechtes Gedankengut hat Konservative infiziert
Ricore Text: Ist es für Filmemacher schwieriger geworden, ambivalente Filme zu schaffen?

Ulrich Seidl: Es wird auch in Österreich härter. Es fällt uns heute allgemein schwerer, dem anderen zuzuhören und andere Meinungen zu akzeptieren. Zudem werden die Stimmen, die moralisieren und nur ihr eigenes Verhalten für richtig halten, lauter und aggressiver. Das grenzt an autoritäres Verhalten.

Ricore Text: Zudem es Mode geworden ist, Kritiker sofort in die rechte Ecke zu stellen, was auch die Schrecken des Faschismus verharmlost.

Ulrich Seidl: Wenn Impfgegner mit Leugnern des Holocaust verglichen werden, ist das eine fürchterliche Entgleisung gegenüber den Opfern der Nazis. Da fehlen mir die Worte. Meinungen müssen zugelassen werden, auch wenn sie mir persönlich nicht passen, ohne dass sich mein Gegenüber sofort in der rechten Ecke wiederfindet.

Ricore Text: Haben Sie den Eindruck, dass sich Österreich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert hat?

Ulrich Seidl: Über was reden wir? Die Generation der Nazis stirbt aus. Ihr rechtes Gedankengut hat die Konservativen angesteckt, wovor viele Menschen die Augen verschließen. Diese Tendenz beobachte ich nicht nur in Österreich.

Ricore Text: Danke für das Gespräch
erschienen am 12. Oktober 2022
Zum Thema
Rimini (Kinofilm)
Bereits 2017 dreht Ulrich Seidl das entlarvende Portrait österreichischer Spießbürger mit rassistischen Ressentiments, latent rechten, oft faschistoiden Denken und Dünkel. Sie haben die Gesellschaft geprägt, haben bürgerlichen Reichtum angehäuft, nun neigt sich ihr Leben dem Ende zu.
2024