Piffl Medien
Edgar Selge in "Poll"
Vorliebe für menschliche Abgründe
Interview: Edgar Selge in der Fremde
Jahrelang unterhielt Edgar Selge als einarmiger Kommissar Tauber in der Krimiserie "Polizeiruf 110" das deutsche Fernsehpublikum. Aber auch im Kino ist der ausgebildete Theaterschauspieler mittlerweile eine feste Größe. In Chris Kraus' "Poll" spielt der 1948 geborene Mime Wissenschaftler Ebbo, Vater der Schriftstellerin Oda Schäfer. Das im Vorfeld des Ersten Weltkrieges angesiedelte Drama wird im fernen Estland gedreht. Im Interview mit Filmreporter.de berichtet Selge von den langen Dreharbeiten, der Lernfähigkeit eines Schauspielers und menschlichen Abgründen.
erschienen am 3. 02. 2011
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Edgar Selge in "Poll"
Ricore: Herr Selge, sind solche langen Reisen zu Dreharbeiten für Sie noch etwas Außergewöhnliches? Man verbringt ja nicht immer 50 Drehtage im Ausland...

Edgar Selge: Es ist vor allem die Länge der Dreharbeiten, die ungewöhnlich ist. Ich habe schon einen israelischen und einen schwedischen Film gedreht, aber nicht über einen so langen Zeitraum.

Ricore: Sie sind in dieser Zeit nicht nach Hause zurückgefahren, oder?

Selge: Doch, ich bin einmal nach Deutschland geflogen. In Berlin, München und Hamburg habe ich verschiedene Projekte fertiggestellt bzw. sie der Presse vorgestellt.

Ricore: Wie sind sie zu diesem Projekt gekommen?

Selge: Auf die übliche Art und Weise. Meine Agentur hat mich angerufen, dann habe ich das Drehbuch bekommen. Dieses hat sofort eine starke Wirkung auf mich gehabt, weshalb ich mich mit dem Autor treffen wollte. Chris Kraus hat nicht lange auf sich warten lassen und kam zwei Tage später in meine Wohnung in München. Er brachte einen großen Blumenstrauß aus weißen Lilien für meine Frau mit, das weiß ich noch. Wir haben zusammen gekocht und gegessen. Im Gespräch haben wir gemerkt, dass wir ähnliche Erfahrungen im Leben gemacht haben und das hat sehr schnell zu einem gemeinsamen Draht geführt. Ich habe dann ein anderes Projekt abgesagt, um in dieses einzusteigen.
Indra Fehse/Ricore Text
Edgar Selge
Ricore: Passiert es Ihnen beim Lesen von Drehbüchern oft, dass Sie von Anfang an fasziniert sind?

Selge: Man muss das ein bisschen differenzieren. Ich glaube, dass ich mich eigentlich nur für Drehbücher entscheide, die mir gefallen. Ich bin froh darüber, dass das so ist. Ich muss nichts machen, was mir nicht gefällt. Trotzdem ist dieses Drehbuch außergewöhnlich und anders als alles, was ich bisher gemacht habe.

Ricore: Was genau ist so anders?

Selge: Ich glaube, dass es vor allem in Deutschland wenig Drehbücher gibt, die die Unterschiedlichkeit von Lebensentwürfen und Charakteren so schroff gegeneinander stellen, ohne zu versuchen, sie dramaturgisch bis ins Letzte zu erklären. Die Figuren in diesem Buch wirken wie Naturgewalten. Wenn man es zuklappt, stellt man fest, dass es Lebensentwürfe gibt, die sich gegenseitig ausschließen und dass die Welt zu klein sein kann, wenn sich alle Menschen in ihr verwirklichen wollen. Auch die Art und Weise, wie Chris Kraus die Geschichte erzählt, macht das Besondere aus. Man wird von Situation zu Situation überrascht und kann sich das Ende nicht ausrechnen.

Ricore: Was macht die Figuren der Geschichte aus?

Selge: Es ist überraschend, dass alle Charaktere eine gewisse Radikalität besitzen. Ich finde, man kann sie nur schwer in Gut und Böse trennen. Aber das kann man natürlich auch ganz anders wahrnehmen. Ebbo ist vielleicht die schwärzeste Figur in diesem Kosmos. Trotzdem war im Gespräch mit Chris eigentlich sofort klar, dass man versuchen muss, diesen Menschen zu verstehen. Es ist eine historische Figur, der ein ganz anderes Weltbild zugrunde liegt. In der heutigen Zeit glauben wir, dass wir auf einer reiferen moralischen Ebene angekommen sind, die solchen Figuren einfach keinen Platz mehr einräumt. Aber das ist ein unhistorisches Denken. Ebbo vertritt eine Wissenschaftsrichtung, die in der damaligen Zeit einfach modern war und nicht verstanden wurde. Auch für uns heute ist das schwer zu verstehen.
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Jeanette Hain und Edgar Selge am Set von "Poll"
Ricore: Fiel es Ihnen schwer, einen Zugang zu Ihrer Figur zu finden?

Selge: Nein, das fiel mir leider gar nicht schwer. (lacht) Ich bin Schauspieler und habe eine Vorliebe für Menschen mit Abgründen und solche, die im gesellschaftlichen Diskurs schnell verurteilt werden. Wir nehmen diese Personen gar nicht wahr, weil sich davor immer gleich die Verurteilung schiebt. Ich empfinde das als Verlust. Deshalb spiele ich solche Menschen gerne.

Ricore: Zehren Sie bei neuen Rollen von Ihrem Erfahrungsschatz früherer Figuren oder gehen Sie jedes Mal neu an die Sache heran?

Selge: Ich hoffe, dass ich jedes Mal neu herangehe. (lacht) Trotzdem setzt sich ein Schauspielerleben aus Erfahrungen zusammen. Ich glaube gar nicht, dass man diesen Beruf wirklich lernen kann. Man kann sich in einer Schauspielschule auf ihn vorbereiten. Aber letzten Endes ist dieser Beruf nichts anderes als die Summe der zurückliegenden Erfahrungen aus Filmen und Theaterstücken.

Ricore: Sind Sie ein Perfektionist?

Selge: Mir gefällt dieses Wort eigentlich nicht besonders. Ich habe auch keine große Lust, es auf mich anzuwenden. Aber wahrscheinlich bin ich einer, ja. (lacht)

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 3. Februar 2011
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